Viereinhalb Wochen
sie auf die Beerdigung vorzubereiten, war unsere Vorgangsweise doch so ungewöhnlich, dass wir niemanden damit überraschen oder gar vor den Kopf stoßen wollten:
Liebe Familie & Freunde,
hier wichtige Informationen für Dienstag wegen des Ablaufs, bitte in Ruhe durchlesen.
Wir schicken es vorab, weil wir nicht wissen, wie wir uns am Dienstag fühlen bzw. in der Lage sind, durch die Zeit zu leiten. Wir wollen keinen offiziellen »Bestatter«, wir wollen alles selbst gestalten.
Bitte seid pünktlich um zwölf Uhr am Eingang des Friedhofs. Wir werden Euch dort empfangen.
Wir gehen dann alle zusammen zum Kennenlernen von Julius. Das heißt im Detail, dass jeder, der will, an das Bettchen gehen kann, mit Julius reden kann, wenn er/sie will, oder einfach nur kurz innehalten. Wir erwarten es von niemandem – bitte fühlt Euch in keinster Weise verpflichtet, irgendetwas zu tun. Wir haben es räumlich so gestaltet, dass man auch einfach mit den anderen im Nebenraum warten kann.
Das Wichtigste für uns in diesen gemeinsamen Stunden mit Euch und unserem Sohn ist: Tut und sagt, was Euch guttut, was Ihr instinktiv machen wollt – egal, was die anderen denken.
So werden auch wir es tun. Es gibt kein »Das macht man nicht« oder »Das reicht dann aber auch«. Jeder soll sich so lange Zeit nehmen, wie er braucht. Diese Momente kommen nicht wieder.
Wenn wir alle unsere Zeit mit dem Kleinen gehabt haben, werden wir alle zusammen zum Garten der Sternenkinder (auf dem Gelände) gehen.
Dort wollen Tibor und ich – wenn wir es schaffen – unseren Brief an unseren Sohn vorlesen, danach noch einen Psalm.
Dann werden wir Julius an seinen Schöpfer übergeben.
Wir wären Euch dankbar, wenn Ihr danach noch ein bisschen bei uns bleibt, wir wollen mit Euch noch zusammensitzen und reden (im Café direkt beim Friedhof). Wenn Ihr losmüsst, ist das aber auch total okay.
Wir werden uns von jedem vor dem Eingang auch wieder verabschieden, danach möchten wir für uns sein. Bitte habt Verständnis.
Es ist gut möglich, dass sich manches oder alles bis zum Dienstag wieder ändert (außer dem Zeitpunkt des Beginns!). Tibor und ich machen alles spontan so, wie wir zwei es für richtig halten. Bitte seid auch so flexibel.
Danke so sehr, dass Ihr alle kommt – das ist so schön für uns. Wir sind dankbar für jeden, der seine Trauer auf seine eigene Art und Weise mit uns teilen kann an diesem Tag.
Euch allen eine gute Anreise und bis übermorgen.
Eure Constanze & Tibor mit Julius Felix im Herzen.
Der Tag vor der Beerdigung war der schlimmste. Noch monatelang danach ging es mir jeden Montag schlecht, mit einem pünktlich wiederkehrenden Tiefpunkt gegen Abend, der die ganze Nacht andauerte. Montagabend hatte die Geburt von Julius begonnen, und an einem Dienstag war er geboren und gestorben und würde nun begraben werden. Ich heulte, heulte, heulte, Tibor konnte mich nicht mehr beruhigen. Schreckliche Fragen bedrängten mich: Wird Julius noch schön sein morgen? Wie werden die anderen ihn empfinden? Wie wird das Schließen des Sargdeckels werden? Wie schlimm der Weg nach oben zum Grab? Wie entsetzlich das eigenhändige Zuschaufeln?
Ich hatte auch die Nächte zuvor schon kaum geschlafen, ich konnte so gut wie nichts mehr essen. Ich sagte Tibor, dass ich diese Nacht wachen würde, dass ich keine andere Möglichkeit hätte. Ich fühlte mich wie Keanu Reeves in dem Film »Matrix Revolutions«, Neo in der Zwischenwelt, der weder vor noch zurück konnte, auch wenn er noch so wollte. Auch ich wollte nichts als zurück – eine Woche zurück, genau eine Woche, als ich Julius noch lebendig und fröhlich Tritte verteilend im Bauch tragen durfte. Ich wollte zurück zu meinem Bauch, zu dem täglichen Heimkommen Tibors, zurück zu unserem kleinen Familienleben, zurück zu den Wehen, zurück zu uns dreien. Ich wollte zurück, war aber doch in elender Dunkelheit gefangen.
Nur durch Tibors behutsame Art und liebevolle Worte kam ich durch diese Nacht. Ruhig sprach er auf mich ein, ging mit mir Punkt für Punkt die Ereignisse von vor einer Woche durch, während der Geburtsnacht. Nur zusammen mit ihm konnte ich mir die Perspektive erarbeiten, dass auch jetzt nicht alles vorbei, sondern dass auch diese Nacht nur ein weiterer Puzzlestein in unserer lebenslangen Reise ist. Immer wieder musste ich mir vorsagen, dass wir Julius nicht verloren hatten, sondern dass er uns nur vorausgegangen war. Tibor tröstete mich vor allem mit seinem Versprechen,
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