Viereinhalb Wochen
während meiner Schwangerschaft, bei denen wir auch in dieser Konstellation zusammensaßen, freilich mit Julius in meinem Bauch.
Dascha, Tibors Schwester, kam ganz vorsichtig herein. Kaum hatte sie Julius gesehen, fing sie an zu lächeln und sagte: »Julius sieht ja in echt noch viel schöner aus als auf den Fotos. Er ist so süß! Das habt Ihr zwei aber gut hingekriegt.«
Sogar mein Vater traute sich herein, was ich nie zu hoffen gewagt hätte – normalerweise geht er solch emotionalen Dingen so gut es geht aus dem Weg. Mein Vater kam, und er war allein, ohne meine Mutter. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen in diesem Moment, das spürte ich. Er lächelte sogar verschmitzt, doch er traute sich nicht, dicht heranzutreten.
»Komm mal näher ran, Papa«, munterte ich ihn auf.
Tatsächlich tat er noch ein paar Schritte nach vorn und besah sich Julius aufmerksam. »Ist der echt?«
Mir blieb fast die Sprache weg, ich musste wieder lachen. Mein Vater war so herzergreifend in diesem Moment, so nah an uns dran wie selten, so stark.
Suse hatte schon im Vorhinein gesagt, sie könne das nicht, Julius ansehen. »Ich sehe ihn wie den Tibor in klein«, hatte sie gemeint, »und ich will ihn genauso im Kopf behalten.«
Ich sagte ihr, dass das kein Problem sei, dass sie das für sich entscheiden müsse.
Und dann stand sie doch im Raum, zusammen mit ihrem Mann. Vorsichtig näherte sie sich dem Sarg, vorsichtig beugte sie sich vor, wie bei einem Neugeborenen, den sie nicht aufwecken wollte. Ich war dankbar, dass sie sich doch aufgemacht hatte.
Vielleicht war die Begegnung mit Julius für meinen Bruder Justus am schwersten. Justus nimmt alles immer direkt und ungefiltert auf und gibt es genauso weiter.
»Ist der echt?«, fragte auch er.
»Ja, er war in meinem Bauch.«
»Schläft er?«, fragte Justus.
Ich musste schlucken und kurz nachdenken. »Ja«, sagte ich, »aber er ist im Himmel, er wacht nicht mehr auf. Du bist jetzt sein Onkel Justus.«
»Warum wacht er nicht mehr auf?«, fragte Justus, sichtlich aufgeregt. »Das finde ich nicht gut. Da muss ich mit Gott drüber reden.« Er schüttelte den Kopf und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Ihm liefen die Tränen. Im Gegensatz zu allen anderen Trauernden konnte er nicht akzeptieren, dass Julius seine Augen nie würde öffnen können. Ich umarmte ihn lange.
Auch Opas Lebensgefährtin Heidi hatte eine natürliche und liebe Art. Sie schaute sich Julius ganz genau an und bemerkte die Ähnlichkeit, die er mit seinem Papa hatte.
Nun fehlte nur noch Susel, und schon hörte ich ihren behenden Schritt. »Wo ist denn der Julius?«, fragte sie.
»So ein kleiner süßer Fratz ist das!«, rief sie im nächsten Moment. »Er sieht dem Tibor so ähnlich!«
Nur Tibors Großvater kam nicht, was wir gut verstanden. Opa ist über neunzig, er hat genug Leid gesehen in seinem Leben und sich mehrfach entschuldigt. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Opa. Alles ist gut«, sagte Tibor, »du bist da, das ist das Wichtigste. Das ist eine sehr große Ehre für uns!«
Als alle Julius gesehen hatten, blieben Tibor und ich noch ein paar Minuten mit ihm allein, dann kam der schlimme Moment: Gemeinsam schlossen wir den Deckel zu seinem Sarg. Die anderen hatten sich schon unten versammelt, wir kamen nach. Tibor trug das bemalte Kistchen durch das enge Treppenhaus. Danach fasste ich mit an, und wir trugen Julius zusammen einen der schmalen Seitenwege des Friedhofes hinauf zum Garten der Sternenkinder. Alle anderen kamen hinter uns, nur Justus ging neben mir. Justus wollte möglichst nahe bei mir sein und auch möglichst nahe bei Julius. Von hinten hörte ich Schniefen und Schluchzen, nur Justus ging mit versteinerter Miene neben mir her. Alle trugen helle, freundliche Kleidung, wie wir das erbeten hatten. Mit im Zug kam noch der Totengräber. Er musste mitgehen, weil das Pflicht war, und er sollte auch dabei sein, falls wir es nicht schaffen würden, das Grab unseres Sohnes selbst zuzuschaufeln.
Wir weinten, dann redeten wir. Worüber, das weiß ich nicht mehr. Es war der schwerste Gang unseres Lebens. Unendlich lang schien sich die Allee hinzuziehen, obwohl das nur wenige hundert Meter waren, doch die wollten kein Ende nehmen.
Vor dem frisch ausgehobenen Loch setzten wir Julius ab. Es herrschte Schweigen, nur Vogelgezwitscher war zu hören und Schluchzen. Ich kramte einen Brief an Julius aus meiner Tasche, den Tibor und ich vorbereitet hatten. Ich begann zu lesen:
Geliebter
Weitere Kostenlose Bücher