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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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dem Friedhofseingang standen, mit betretenen Mienen. Wie weh mir das tat, ihre traurigen Gesichter zu sehen – unsere engste Familie, meine zwei Freundinnen, so voller Leid und Gram. Ich überlegte, sofort hinunterzugehen, blieb dann aber sitzen. Nein, dachte ich, diese Menschen habe ich noch lange, aber meinen Sohn kann ich erst wieder in anderen Gefilden sehen. Ich war geizig beim Weggeben der Zeit mit meinem Sohn, weil ich so wenig von dieser Zeit bekommen hatte.
    Punkt zwölf gingen wir dann hinunter, Tibor und ich Hand in Hand. Alle waren gekommen: meine Eltern mit meinen Geschwistern Sybille, Justus und Sebastian, Tibors Mutter und seine Schwester Dascha, sein Großvater mit seiner Lebensgefährtin Heidi. Meine Freundinnen Susel aus der Oberlausitz und Suse, die mit ihrem Mann aus Frankfurt am Main angereist war. Tibors Bruder hatte sich entschuldigt – er hatte uns eine liebevolle E-Mail geschickt und sich erklärt. Wir hatten vollstes Verständnis. Tibors Vater und seine Lebensgefährtin hatten auch abgesagt.
    Wir begrüßten jeden Einzelnen, umarmten alle.
    »Ich bin jetzt Mama!«, sagte ich stolz zu jedem, und alle weinten.
    Wir gingen ins Café, hinauf in den ersten der beiden oberen Räume. Die Tür zum zweiten Raum, in dem Julius lag, war noch geschlossen. Tibor begann zu sprechen, aber ihm versagte die Stimme, also versuchte ich zu reden, so gut es ging. Ich bedankte mich bei allen, dass sie gekommen waren. Ich sagte ihnen, dass wir das heutige Ereignis bewusst »Kennenlernen« nennen wollten, ich beschrieb ihnen, was sie im Nebenraum erwarten würde: Julius eingewickelt in seine Kuscheldecke, aus der nur das Köpfchen heraussah. Das kleine Näschen, die schwarzen Haare, ganz wie bei seinem Papa, die kleinen, süßen Ohren.
    »Jedem ist es freigestellt, ob er Julius kennenlernen will oder nicht. Wir werden die ganze Zeit bei ihm sitzen. Jeder soll sich nur eines überlegen: Wir haben seit Julius jeden Moment in unserem Leben gelebt. Wir können zu jedem Lebensmoment sagen ›wir haben‹. Den Satz ›hätten wir doch‹ gibt es bei uns nicht mehr. Nun behaltet im Hinterkopf, dass auch dieser Moment nie wiederkommen wird …« Stille. Ich öffnete die Tür zum Nebenraum und wir gingen gemeinsam hinüber zu unserem Sohn. Ich war so glücklich wie eine frischgebackene Mama, die ihr lebendes Kind präsentiert. So wollte ich das auch bei Julius tun, so freudig, so voller Stolz. Genau so.
    Es dauerte nicht lange, und die ersten Besucher kamen herein. Manche lugten ganz vorsichtig um die Ecke, weil sie dachten, sie könnten schon von weitem etwas erspähen, aber darin hatten sie sich getäuscht. Man konnte Julius erst sehen, wenn man sich über sein Bettchen beugte, so tief in seine Babydecke eingekuschelt lag er da. Ich saß direkt neben ihm, Tibor stand dicht neben mir und hatte seinen Arm um mich gelegt. Wir sahen Julius die ganze Zeit an, ich konnte meine Blicke nicht von ihm losreißen. Ich hörte nur die Schritte näher kommen und sich wieder entfernen, und ich hörte die halblaut gemurmelten Kommentare.
    »Ooch, ist der klein …«
    »Ist der schön …«
    »So niedlich!«
    Ich hörte das Schluchzen derer, die sich wieder entfernten von Julius, ich fühlte die Tränen. Es muss schrecklich gewesen sein für alle: Du siehst deinen Enkel, deinen Neffen, deinen Urenkel zum ersten Mal, und er ist wunderschön, er liegt so friedlich da, wie schlafend. Doch er ist tot.
    Es brach mir das Herz, meine Mutter zu sehen, ihre tiefe Traurigkeit. »Mein lieber kleiner Julius.« Wir weinten zusammen, Arm in Arm.
    Meine Schwiegermama konnte ihr Weinen kaum bändigen. »Ich wollte dich verwöhnen«, schluchzte sie, »und ich darf es nicht!«
    Meine Schwester konnte all diese Gleichzeitigkeiten kaum fassen: »Du weinst mit uns, und du bist gleichzeitig stolze Mutter!« Sie hatte eine Kette dabei, die ich ihr vor vielen Jahren geschenkt hatte. Der Anhänger ist ein kleiner
Tigger,
Winnie Poohs bester Freund. Diese Kette legte sie Julius mit in sein Bettchen. Uns liefen die Tränen. Wir hielten einander wortlos in den Armen.
    Diese Kennenlernstunde war für mich einer dieser ewigen Momente, von denen ich niemals würde sagen können, wie lange sie dauerten. Mein Bruder Sebastian schloss beim Hereinkommen die Türen hinter sich, er wollte mit uns und Julius allein sein. Wir waren fröhlich beisammen, so unglaublich das klingt, wir mussten zwischen all den Tränen viel lachen. Es war wie bei einem der häufigen Treffen

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