Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Das war eines von den Kleidern, von denen ich geträumt habe. Das kann einfach kein Zufall sein. ”
Paula stöhnt und reibt sich das Kinn. Ich hasse diese Geste.
„Hör mal, Lena. Gestern hast du noch gesagt, wie toll das hier ist, wie schön groß die Wohnung ist und wie viel Geld wir sparen. Und jetzt erzählst du mir plötzlich, dass du dich nicht wohlfühlst. Was soll ich jetzt bitte glauben?”
„Jetzt mach nicht so blöd. Ich sag dir nur, wie es mir geht. Und ich habe in diesem Haus schon ein paar Mal das Gefühl gehabt, dass irgendwas nicht richtig ist.”
„Du und deine Gefühle.”
„Ach leck mich doch am Arsch.”
Ich stehe auf, gehe ins Schlafzimmer, werfe die Tür zu und lege mich aufs Bett. Als ich mich zur Wand drehe, da sehe ich, dass neben mir auf der Matratze eine große, tote Fliege liegt, ihre gekrümmten Beine zeigen nach oben. Ich packe Kissen und Decke und gehe ins Wohnzimmer.
„Was soll denn das jetzt?”, fragt Paula.
„Ich schlafe im Wohnzimmer.”
„Wegen diesem kleinen Streit? Jetzt übertreib' mal nicht.”
„Wegen dem Streit und weil in diesem scheiß Schlafzimmer überall tote Fliegen rumliegen. Ich glaube, die kommen extra zu uns ins Schlafzimmer, um hier zu verrecken.”
Paula antwortet nicht. Ich werfe mein Bettzeug auf das Sofa und setze mich neben sie. Einige Minuten später sagt sie doch etwas:
„Lena, bitte sprich mit diesem Psychiater. Ich mach' mir echt Sorgen um dich.”
***
Ich habe weder mit Herrn Strauss noch mit irgendeinem anderen Seelenklempner gesprochen. Ich habe verdammt noch mal keine psychischen Probleme. Ich weiß, dass dieses Kleid, die Sache ist jetzt mehrere Tage her, dass dieses Kleid eines der Kleider war, das ich in meinem Traum gesehen habe. Ich bilde mir das nicht ein, ich weiß es.
Paula hat mir angeboten, die Rundgänge durch das Haus zu übernehmen. Sie denkt, dass ich Schiss habe, alleine durch die Etagen des Herbsthauses zu gehen. Aber nein, nein und noch mal nein. Stur mache ich meine Kontrollgänge. Ich will auch nicht, dass sie mich begleitet.
Immer wieder sage ich mir, dass es hier nichts gibt, was ich fürchten müsste, weder einen eigensinnigen Aufzug, noch irgendein großes, schwarzes Tier, das aus irgendeiner Tür springt. Natürlich kommen die Gedanken, natürlich denke ich manchmal, da liegt jetzt gleich dieses Kleid auf dem Boden, wenn ich um die Ecke in einen düsteren Flur biege. Aber das passiert nicht, das sind nur Gedanken, Spiele meines Verstandes, Spekulationen. Das Kleid ist unten im Keller, Paula hat es dorthin zurückgebracht, wo sie es gefunden hat. Oh Gott! Es ist wirklich lächerlich, ich habe Angst vor einem alten, mottenzerfressenen Kleidungsstück. Das kann doch einfach nicht wahr sein!
Vielleicht war das alles ja wirklich nur Zufall? Dass etwas unwahrscheinlich ist, heißt nicht, dass es nicht doch passieren kann. Vielleicht sah dieses Kleid, das nun wieder bei seinen Artgenossen im Keller verrottet, ja wirklich nur zufällig so aus wie … Ach Scheiße! Ich weiß einfach nicht, was ich von der Sache halten soll.
...
Und dann passiert es. Als ich gerade wieder Vertrauen in die Verlässlichkeit meiner Sinne und meines Verstandes gefasst habe, als ich gerade wieder anfange, mich als Teil einer berechenbaren und festen Regeln gehorchenden Welt zu fühlen, da passiert es einfach.
Es ist die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, kurz vor drei. Der Mond scheint durch die Jalousien auf Paulas nackte rechte Schulter. Sie liegt auf dem Bauch und ist wunderbar warm, ihr Atem geht langsam und gleichmäßig. Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, dann achte ich auf Paulas Atem, achte darauf, ob er aussetzt. Wahrscheinlich ist es normal, dass ich mich als angehende Ärztin so verhalte. Solange ich nicht irgendwelche Urinproben von ihr haben will ...
Warum ich aufgewacht bin, das weiß ich nicht. Ich stütze mich vorsichtig mit dem Ellenbogen auf der Matratze ab und betrachte meine Gefährtin, sehe, dass sich ihre Augen hinter den Lidern bewegen … anscheinend träumt sie. Einige Minuten sehe ich sie an und längst haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Natürlich ist alles grau, bei so wenig Licht funktionieren nur die Stäbchen, man nimmt nur Grautöne wahr. Die Umrisse aber, die Ecken des Zimmers und die Kanten der Möbel, die sehe ich klar und deutlich.
Warum bin ich aufgewacht? Habe ich etwas gehört? Mein Blick wandert von Paulas Gesicht über ihre nackte Schulter … bis hinunter zu
Weitere Kostenlose Bücher