Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
ihrem rechten Fuß, der nicht zugedeckt ist, der daliegt, als würde er gleich von der Matratze rutschen. Ein weißes Stück Mensch in der Dunkelheit.
Ganz langsam beuge ich mich zu Paula und küsse sie auf die Schulter. Manchmal lächelt sie im Schlaf, wenn ich das tue. Auch diesmal? Nein, sie atmet gleichmäßig weiter, ganz leicht hebt und senkt sich ihr Rücken unter der dünnen Decke. Hat mein Kuss es bis in ihre Träume geschafft? Hat ihr Verstand diese leichte Berührung eingeflochten in das, was sie dort drüben erlebt? Vielleicht war ich plötzlich bei ihr. Vielleicht hat sich ein gelber Traumkanarienvogel auf ihre Stirn gesetzt. Vielleicht ist auch plötzlich ein grasgrünes Kamel mit zwanzig Höckern aufgetaucht und hat ihr seine großen, schwabbeligen Lippen ins Gesicht gedrückt. Könnte sie es mir sagen, wenn ich sie jetzt aufweckte? Am liebsten würde ich es tun, sie an der Schulter rütteln … oder ihr, manchmal bin ich gemein, die Nase zuhalten. Plötzlich wieder dieser Gedanke: Lena, warum bis du aufgewacht? Was hat dich geweckt?
Ich betrachte Paula, betrachte ihr schön geschnittenes, nachtschattengraues Gesicht, betrachte sie eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten. An die Stille habe ich mich mittlerweile gewöhnt, sie fällt mir nicht mehr auf, sie ist gewöhnlich geworden. Ich lächle in mich hinein. Jetzt ist mir also gerade aufgefallen, dass mir die Stille nicht mehr auffällt … wirklich interessant. Musste mir nicht erst die Stille auffallen, damit mir auffallen konnte, dass sie mir nicht mehr auffällt? Ich beschließe, dass es der falsche Zeitpunkt für solche Überlegungen ist. Die giftgrüne Anzeige des Radioweckers zeigt ein eckiges 03:00. Was hat mich geweckt?
Noch ein vorsichtiger Kuss für Paula, dann lege ich mich auf den Rücken und schaue die Lampe an, die rund zwei Meter über mir von der Decke baumelt. Mit ihrem schlichten Metallschirm hat sie diesen Lagerhallencharme, den Paula gern mag. Das Ding wird noch über unseren schrumpeligen Köpfen baumeln, wenn wir neunzig Jahre alt sind.
Etwa eine Minute liege ich auf dem Rücken, ich gähne und schlucke Speichel. Müdigkeit und Unruhe, beides in mir drin. Etwas stört mich, da ist irgendetwas, was mich stört. Ganz kurz nur kommt die wieder die Frage, was mich aufgeweckt hat. Dann stülpt sie sich um und wird zu der Gewissheit, dass mich etwas aufgeweckt hat, dass es einen Grund für mein Wachsein geben muss. Plötzlich ist mir, als wäre alles um mich herum mit winzigen spitzen Nadeln besetzt: Das Kissen und die Decke, die Matratze und die Luft, die ich atme. Etwas stört mich hier, etwas stimmt nicht in diesem dunklen Zimmer. Ich atme tief ein, nehme die stachelige Luft in mich auf. Dann drehe ich mich auf die Seite, mache eine dieser Bewegungen, die man Tausende Male macht. Ich hebe ein wenig meinen Kopf, verlagere mein Gewicht nach links, stütze mich mit dem linken Ellenbogen ab und rutsche mit dem Hintern näher an die Wand. Während dieser Bewegungsfolge – es ist keine Absicht, es passiert einfach – wandert mein Blick durch das Schlafzimmer. Erst als ich mit dem Gesicht zu Paula auf der Seite liege, wird mir bewusst, was ich da gerade am anderen Ende des Zimmers gesehen habe, ich stemme meinen Oberkörper hoch und hebe den Kopf
Und da steht es vor mir, das große schwarze Tier. Dreieinhalb Meter vor mir, zwischen Wand und Kleiderschrank …
Die Gewissheit, dass mein Albtraum real geworden ist, kommt langsam und brutal. Einige wenige Sekunden wehrt sich mein Verstand noch, dann bricht er zusammen und mich überkommt kalte Panik. Ich drücke mich an das Vorderteil des Bettes, ziehe die Knie an, will nur weg von diesem Vieh, das da im Halbdunkel lauert. Ich greife nach Paula, greife ihr ins Gesicht, kriege ein Büschel ihrer kurzen Haare zu fassen und zerre daran. Sie muss aufwachen, ich brauche sie jetzt. Sie muss es sehen. Und das Tier steht nur da in seiner Nische zwischen Schrank und Wand, größer als ein Mensch und am ganzen Körper behaart, dunkel glänzende Augen und spitze, weiße Zähne. Das Ding starrt mich an.
Jetzt ist Paula da. Sie sagt etwas, aber ich verstehe nichts. Ich lasse ihre Haare los, spüre ihre Bewegungen auf der Matratze. Ich zeige auf das Tier, zeige Richtung Kleiderschrank. Ich will ihr sagen, dass sie dorthin schauen muss, aber die Worte verklemmen sich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie sich die Augen reibt und an den Kopf fasst. Warum verdammt schaut sie nicht hin? Ihr Blick
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