Vilja und die Räuber: Roman (German Edition)
her, dass nicht einmal er selbst sich mehr daran erinnert.«
Ich setzte mich wieder hin, und Kaija erzählte mir die Geschichte des Wilden Karlo.
» Vor vielen Jahren, als Kalle zwei Jahre alt war und Hele fünf, arbeitete Karlo in einer Autofabrik.«
» Das glaube ich nicht«, sagte ich. Ich konnte mir den Vater Räuberberg nicht als Arbeiter im Blaumann vorstellen, der in die Fabrik ging, wenn die Werkssirene ertönte.
» So war es aber«, sagte Kaija. » Eine Autofabrik in Ostfinnland; da gab es ja früher mehrere. Karlo fand, dass sie die besten und haltbarsten Autos bauten. Er sagte, er habe absolutes Vertrauen in diese Autos, weil er jedes einzelne Teil selbst hergestellt hatte. Karlo machte seine Sache ausnehmend gut, fast überall in dieser Fabrik setzten sie ihn ein. Zum Schluss überprüfte er die Wagen, damit auch alles in Ordnung war. Piet war sein bester Freund und Kollege, von dem Tag an, als beide in der Fabrik angefangen hatten. Hilda und die Kinder sahen durchs Fenster, wenn Karlo und Piet von der Arbeit kamen. Piet wohnte allein, aber im selben Haus, und kam oft zum Essen zu Karlo und Hilda. Es war ein ganz normales Haus, mit Balkonen, und in der Weihnachtszeit hatten sie einen roten Weihnachtsstern aus Kunststoff im Fenster.«
Während Kaija erzählte, war es dämmerig geworden, die kurze dunkle Zeit in einer hellen Sommernacht. Kaijas Stimme war leiser geworden.
» Kurz vor Weihnachten kam dann die Nachricht: Die Fabrik wurde geschlossen, die Autoproduktion wurde in ein anderes Land verlegt, wo sie billiger war. Es hieß, wer wollte, könne stattdessen Handyschalen herstellen oder versuchen, in einer anderen Fabrik als Metallarbeiter unterzukommen. Aber Karlo wollte nicht. Er wollte weiterhin jene besten und haltbarsten Autos bauen, die er sein ganzes Leben lang gebaut hatte. In den letzten Tagen vor Weihnachten müssen sie ihren Plan gefasst haben«, sagte Kaija. » Ich wollte sie am zweiten Weihnachtstag besuchen, da waren sie schon nicht mehr da. Die Wohnungstür war angelehnt. Der Stern hing im Fenster, im Kinderzimmer lag Spielzeug, im Schrank hing ihre Kleidung. Aber sie waren nicht mehr da. Ich glaubte, ich würde sie nie mehr wiedersehen, bis sie ein halbes Jahr später, als es Sommer wurde, mit dem Bus hier vor meinem Haus auftauchten.«
Ich versuchte, mir das Leben der Räuberbergs in jenem ersten Jahr vorzustellen: Wie auch sie einmal ihre erste Nacht im Räuberbus zubrachten, genau wie ich. Wie Hele und Kalle ihre Spielsachen und ihre Freunde vermissten, bis sie sie allmählich vergaßen – und Hele zur Superräuberin ohnegleichen wurde.
» Karli hatte sich nicht getraut, mich besuchen zu kommen, weil er dachte, ich wäre böse auf ihn«, sagte Kaija. » Aber wie kann man jemandem böse sein, weil er seinen Traum verwirklichen will?«
Sie stand plötzlich auf, sodass die Wolldecke ihr auf die Füße rutschte. » Sollen wir reingehen? Es wird kühl.«
Als ich die Augen schloss, sah ich ein Mietshaus vor mir mit einem leeren Parkplatz davor. In einem Fenster hing ein roter Weihnachtsstern, aber dahinter war niemand mehr zu Hause.
Kapitel 11
in dem die Räuberbergs endlich beim Räubersommerfest sind
E ndlich!« juchzte Hele und hopste in der Küche auf und ab. » Endlich! Endlich fahren wir los!«
Es war sechs Uhr. Ich hatte das Gefühl, als wären Kaija und ich erst vor ein paar Stunden schlafen gegangen. Verwundert stand ich in der Küchentür, wo etwas Verblüffendes geschah. Hele machte das Frühstück. Ich habe noch nie jemanden in so einem Tempo Frühstück machen sehen. Sie schlug mit einer Hand Eier in eine Schüssel und schaufelte mit der anderen Kaffee in die Kaffeemaschine. Dann schlug sie die Eier schaumig und steckte gleichzeitig Brot in den Toaster. Sie wirbelte in der Küche umher, dass sich ein regelrechter Tornado um sie bildete.
Hin und wieder brüllte sie melodisch: » Aufwachen!«, sprang auf einen Küchenstuhl und von da auf den Tisch und hämmerte mit der Eierpfanne an die Decke. » Aufwachen, alle Räuberbergs, aaaaufwachen! Geschätzte Abfahrtszeit in fünfundvierzig Minuten!«
» Ist es nicht schön, wenn man eine richtige Küche hat«, sagte Kaija zu Hele und rollte sich Lockenwickler ins Haar. Nach dem Aufwachen sah sie nur wie eine alte Frau aus, nicht mehr halb so gefährlich wie gestern. Als sie das zu Hele sagte, fiel mir plötzlich wieder ein, worüber wir geredet hatten, als die anderen schon schliefen. Die Vergangenheit des Wilden Karlo.
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