Villa des Schweigens
mein Zimmer. Mein Blick flatterte immer wieder zu den beiden Zetteln auf meinem Tisch. Der eine mit Laurens rosa Girlie-Schrift darauf, der andere mit »meinem« Gedicht. Ich musste mit jemandem reden. Aber mit wem? Es war Samstagabend, ich kannte fast keine Menschenseele in dieser Stadt. Nein, das stimmte nicht ganz. Da waren Tante Franziska und Lars.
Aber den kannte ich kaum. Jedenfalls nicht gut genug, um ihn mit so einer schockierenden Nachricht anzurufen. Ich tat es trotzdem.
»Hallo?«
Er klang fröhlich, im Hintergrund hörte ich Musikund Stimmengewirr. Befand er sich bereits auf der nächsten Party?
»Ich bin's«, stammelte ich. »Nina.«
»Nina! Wie geht's dir? Ging der glorreiche Abend denn noch lange? Hat deine Freundin ihren Rausch wieder ausgeschlafen?«
»Was?«
»Deine Freundin, die auf der Treppe saß und geheult hat.«
»Sie ist tot.«
Am anderen Ende erklang ein Geräusch. Eine Art ungläubiges Schnaufen.
»Spinnst du? Soll das ein Witz sein?« Er lachte unsicher.
»Es ist kein Witz. Sie lag heute früh tot im Korridor.«
»Um Gottes ... Wieso denn? Warum?«
»Wir wissen es nicht. Sie haben sie mitgenommen.« Ich brachte das Wort Leiche nicht über die Lippen.
»Bist du okay? Von wo aus rufst du denn an?«
»Ich bin in meinem Zimmer.« Mir fiel etwas ein. »Sag mal, gestern Abend, hattest du das Gefühl, dass sie sehr betrunken war?«
Er zögerte kurz. »Na ja, besonders nüchtern kam sie mir nicht gerade vor. Aber auch nicht völlig hinüber. Sie hat ja noch ganz normal geredet, nicht gelallt oder so. Warum?«
Genau. Sie war nicht sturzbetrunken gewesen.
»Und hast du einen Zettel oder so was bei ihr liegen sehen?«
»Einen Zettel? Keine Ahnung. Es war so dämmerig in eurem Haus. Warum denn?«
»Weil wir nicht wissen, warum sie gestorben ist. Es sieht so aus«, ich stockte kurz, »als hätte sie sich umgebracht.«
»Warum das denn?«, fragte er zum vierten Mal. Im Hintergrund lachte eine Gruppe von Leuten schrill auf. »Lars!«, rief jemand.
»Das wissen wir auch nicht. Liebeskummer, wie es aussieht. Ihr Freund hat mit ihr Schluss gemacht. Wo bist du denn?«
»Wie kann man nur so was tun?«, sagte er leise, wie zu sich selbst. »Ich bin hier auf der Geburtstagsfeier von meinem Bruder. Willst du vielleicht herkommen?«
»Nein, auf keinen Fall.« Allein der Gedanke versetzte mich in Panik.
»Lars«, rief wieder jemand.
»Hör mal, ich ...«
»Es ist okay«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich wollte dir nicht die Partylaune verderben.«
»Quatsch. Pass auf, ich rufe dich morgen früh an, bevor ich ins Ferienlager fahre, okay? Dann können wir in Ruhe darüber sprechen. Und du kannst mich jederzeit dort anrufen.«
»Alles klar«, sagte ich mit dünner Stimme. Lars konnte nicht herkommen. Der Zettel mit LaurensTelefonnummer lag auf meinem Tisch. Anklagend. Als wollte er mir irgendetwas signalisieren. Ich hatte keine Ahnung, was es war. Wie ferngesteuert klappte ich meinen Laptop auf. Googelte Heinrich Heine und das Gedicht vom Jüngling, der ein Mädchen liebte. Die alte Geschichte, die sich schon seit Ewigkeiten immer wiederholte.
Ein Jüngling liebt ein Mädchen. Der Jüngling wäre also Stefan, das Mädchen Lauren. Die hat einen andern erwählt. Benjamin? Der andre liebt eine andre und hat sich mit dieser vermählt. Benjamin liebte Lauren nicht, sondern jemand anderen? Es ergab überhaupt keinen Sinn. Außerdem wollte Stefan laut eigener Aussage nichts mehr von Lauren wissen.
War vielleicht der erste Jüngling Benjamin und der zweite Stefan? Der sich mit einer anderen vermählt hatte? Wie lächerlich.
Ich gab es auf.
Und doch lag die Antwort irgendwo in dem Gedicht, ich konnte es förmlich spüren. Morgen würde ich Benjamin zur Rede stellen. Aber zuerst musste ich noch diese Nacht überstehen.
Ich rollte mich zu einem Ball auf meinem Bett zusammen. Ganz klein wollte ich mich machen, winzig klein, so klein, dass mich keiner sehen konnte. Letzte Nacht war Lauren unter mysteriösen Umständen hier gestorben. Kurz zuvor war der schreckliche Engel heruntergefallen. Die komische Blume in meinem Bett, die Tatsache, dass meine Zimmertür nichtabzuschließen war und die Tür zum Garten dauernd aufschnappte ... Von Anfang an hatte die Villa etwas Unheimliches an sich gehabt, ich hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Ich versuchte, das Gefühl von aufkommender Hysterie zu unterdrücken.
»Reiß dich zusammen!«, sagte ich laut. Nächstes Jahr würde ich komplett alleine irgendwo
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