Villa des Schweigens
helfen – ich hatte das Gefühl, dass er nicht ganz ehrlich war.
»Sie denken, Lauren liebt einen anderen?«, fragte Claire perplex. Liebte! , schrie ich in Gedanken. Aber auch das machte keinen Sinn. Lauren war so verknallt in Stefan gewesen, wie ein Mädchen es nur sein konnte. Und doch ... Die Szene mit Benjaminerschien wie aus dem Nichts vor meinem inneren Auge. Ich spürte, wie ich langsam aus meiner Trance erwachte und mein logisches Denken wieder einsetzte.
»Was meinst du denn, Benjamin?«, fragte ich und sah ihm direkt in die Augen. »War Lauren in einen anderen verliebt?«
Er wurde rot. Das war ja nichts Neues.
»Woher soll ich denn das wissen?«, flüsterte er. Ich hatte mit einem Mal riesige Wut auf ihn. Er wusste doch etwas! Warum sagte er nichts?
»Der Bestatter ist unterwegs«, meldete sich einer der jungen Rettungsärzte. Ich hatte völlig vergessen, dass die beiden noch da waren. Er reichte dem Hauptkommissar ein paar Papiere.
»Was?« Stefan klang auf einmal wie ein kleiner Junge. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer weinerlichen Fratze, als ob ihm erst jetzt bewusst wurde, dass Lauren gleich für immer verschwinden würde. Aber ich achtete nicht auf ihn. Etwas anderes hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Der Zettel mit dem Gedicht, der lose in der Hand des Hauptkommissars baumelte.
Es sah aus wie Laurens Schrift, nur ziemlich verschmiert. Im ersten Moment hatte es ausgesehen, als ob Tränen auf das Papier getropft wären, aber jetzt hatte ich erkannt, was das war. Das Gedicht war mit dem klecksenden Füller geschrieben worden, dem umständlichen, protzigen Ding aus der Küche.Warum um alles in der Welt hatte Lauren für ihre letzte Nachricht dieses Monstrum benutzt und nicht ihren heiß geliebten gold-rosa Weihnachtsstift? Der Füller war doch mehr Stefans Stil.
Wahrscheinlich war Lauren sturzbetrunken gewesen, als sie das Gedicht aufgeschrieben hatte. Mit dem umständlichen Füller auf das Papier gekratzt hatte? Irgendwo in meinem Kopf machte etwas kurz klick , nur um sofort wieder zu verschwinden.
Ich löste meinen Blick von dem Blatt und sah zu Stefan. Er heulte. Neben ihm stand Benjamin und rieb sich gestresst die Stirn. Ich starrte auf seinen Zeigefinger, der hoch und runter rieb, hoch und runter. Und auf den blauen Tintenklecks neben dem Fingernagel.
16. Kapitel
Die KTU nahm das Gedicht mit und auch ein paar Gläser und halb leere Flaschen.
»Warum machen die das?«, fragte Stefan leise.
»An irgendwas muss sie doch gestorben sein. Alkoholvergiftung vielleicht? Mit 17 fällt man doch nicht einfach tot um, wie der Mann schon gesagt hat«, murmelte Julius.
»Heißt das, die glauben, dass sie sich umgebracht hat?«
»Hat sie das denn?« Julius' Stimme war jetzt nur noch ein Wispern.
»Wieso fragst du mich so was? Was ist das für eine Scheißfrage?« Stefan klang wütend.
»Und was ist das für eine Antwort?«, gab Julius zurück.
»Hört auf!«, zischte ich. Ich zupfte Julius am Ärmel. Wie konnten sie sich hier streiten, wenn ... Er sah zu mir. Ich ruckte unmerklich mit dem Kopf nach links.
Lauren wurde gerade auf einer Bahre weggetragen. In einen Plastiksack gehüllt. Zugezurrt wie eine riesige Reisetasche. Ich konnte es einfach nicht glauben. Spontan griff ich nach Stefans Hand. Er erwidertemeinen Händedruck. Benjamin hockte auf dem Boden, Claire blickte ins Nirgendwo.
»Warum?«, flüsterte ich.
Endlich waren sie alle weg. Es war schon fast wieder Abend. Der Hauptkommissar hatte uns zu verstehen gegeben, dass man sich bald wieder bei uns melden würde.
Wenn weitere Fragen auftauchten.
Wie von unsichtbarer Kraft angezogen hatte es uns alle in die Küche verschlagen. Ich fing an, Teller abzuwaschen, klebrige Pfützen aufzuwischen, Flaschen in Kisten zu räumen. Mechanisch irgendwas zu tun, nur um mich zu beschäftigen. Die anderen arbeiteten fieberhaft mit. Keiner sagte etwas. Als Stefan eine nasse Tasse aus der Hand rutschte und auf den Küchenfliesen zerschellte, hielten wir inne. Starrten auf den Henkel der Tasse, der wie ein abgeschnittenes Ohr auf dem Boden lag. Stefan fing an zu schluchzen, kehlig und laut.
»Hey!« Claire umarmte ihn.
»Ich hab gestern mit ihr Schluss gemacht«, platzte er heraus.
»Was?!« Julius sog hörbar die Luft ein.
»Ich hab mit ihr Schluss gemacht! Aber ich hab doch nicht ahnen können, dass sie ...« Der Rest ging in einem schnaubenden Geräusch unter.
»Sch, sch«, machte Claire. Als ob sie ein Baby beruhigte.Ich hatte gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher