Villa des Schweigens
sah ganz so aus, als würden sie mit ihrer Klage gegen den »Wessi«-Hausbesitzer durchkommen. Wenigstens etwas.
Aber nach zwei Stunden konnten weder Herr Seibel noch ich länger verleugnen, dass es eben doch nicht ging. Meine Hände zitterten, ich hatte ein Glas Wasser umgekippt und besonders weit war ich auch nicht gekommen, weil ich immer wieder ins Leere starrte und meine Gedanken abschweifen ließ.
»Jetzt gehen Sie nach Hause und legen sich ins Bett, Sie haben ja Augenringe wie ein Panda«, sagte Herr Seibel gegen Mittag. »Und morgen bleiben Sie am besten auch noch zu Hause. Erholen Sie sich, gehen Sie schwimmen oder so.« Er schüttelte leichtden Kopf. »Die armen Eltern. Das ist ja so furchtbar.«
Darauf gab es nichts zu sagen. Ich stand auf, nahm meine Tasche und taumelte ins Freie. Es nieselte immer noch ziemlich stark. Egal, meine Sachen waren ohnehin noch feucht von heute Morgen. Ich erhaschte einen Blick auf mich selbst in einem Schaufenster. Schrecklich sah ich aus. Zerknittert, bleich, die Haare von dem feuchten Wetter störrisch wie Putzwolle. Herr Seibel hatte recht. Aber schlafen würde ich nicht. Sondern endlich anfangen, Fragen zu stellen.
Die alte Weber guckte aus ihrem Haus, als ich angeradelt kam. Bei meinem Anblick verzog sie das Gesicht in einer seltsamen Mischung aus Besorgnis und Angst.
»Hat der Krankenwagen Sie diesmal nicht mitgenommen?«, rief sie.
Ich blieb stehen. Krankenwagen? Meinte sie den Notarzt für Lauren?
»Ich glaube, Sie verwechseln mich«, erklärte ich ihr und kam näher. Sie kniff die Augen zusammen und sah jetzt nur noch verwirrt aus.
»So was«, sagte sie dann. »Entschuldigung.« Das Fenster klappte zu. Die war nicht verrückt. Nur kurzsichtig. Ihre seltsamen Bemerkungen waren also nicht Ausgeburten eines senilen Gehirns, sondern ... Auch das würde ich jetzt gleich klären.
Ich konnte laute Gespräche aus der Küche hören. Offenbar waren sie alle da, sogar Benjamin. Sehr gut. Ich würde mich schnell umziehen und dann endlich Klartext mit ihnen reden. Lange genug hatte ich nichts unternommen, war wie gelähmt gewesen. In meinem Zimmer schlenkerte ich meine nassen Turnschuhe ab. Undeutlich vernahm ich das Geräusch eines vorfahrenden Autos vorn auf der Straße. Das Klappen von Autotüren. Ich strampelte aus meiner klammen Jeans, stolperte und fiel auf die Knie. Und schrie laut auf.
Nicht vor Schmerz. Sondern vor Wut.
Vor mir auf dem Boden lag, fein säuberlich gefaltet und mit einem Gänseblümchen verziert, ein Blatt Papier. Ich zwang mich, es zu öffnen.
Wieder dasselbe.
Ein ausgedruckter Dreizeiler:
Komm, lass dich fallen
Es steht nichts auf der Welt
Zwischen dir und mir.
Jetzt reichte es. Ich hatte es so satt. Wer immer das war, wer immer mich hier aus der Ferne anhimmelte – denn darauf lief es ja wohl nun doch hinaus –, sollte mir gefälligst ins Gesicht sagen, was er von mir wollte, und mich nicht mit diesen heimlichen Aktionen erschrecken. Ich stieg fluchend in ein Paar Shorts, schnappte den Zettel und stürmte in die Küche.
»Jetzt will ich endlich mal wissen, wer von euch ...« Ich brach ab. Meine vier Mitbewohner standen jeder in einer anderen Ecke des Raumes. Wie Steine, die ein Zelt nach allen Richtungen hin beschwerten. Und genau in der Mitte befand sich Hauptkommissar Ertl. Sein Kollege lehnte an der Spüle. Mir fiel seltsamerweise auf, dass beide schon graue Schläfen hatten, neulich waren sie mir viel jünger vorgekommen.
»Was wollen Sie wissen?«, fragte Ertl. Claire sah verheult aus, Julius weiß wie Kalk. Sie blickten mich erwartungsvoll an.
»Ich ...« Der Zettel schien plötzlich zwei Zentner zu wiegen. Ich schloss schnell meine Faust darum. »Wer immer meine Cola austrinkt«, beendete ich lahm meinen Satz.
Der Kommissar öffnete den Kühlschrank. »Nehmen Sie halt die«, sagte er und zog eine große Flasche heraus. Nina stand mit fetter schwarzer Schrift auf dem Etikett, von mir selbst vor ein paar Tagen draufgeschrieben. »Scheint noch ungeöffnet zu sein.« Er lächelte nicht.
Ich senkte meinen Blick, nahm ihm die Flasche ab, öffnete sie zischend und goss mir ein überschäumendes Glas ein.
»Sie können gleich mit hierbleiben. Wir wollten Sie sowieso gerade noch dazuholen«, sagte sein Kollege. »Es interessiert Sie ja sicher auch, zu erfahren, woran ihre Freundin gestorben ist.«
»Ja«, sagte ich hölzern. Mir wurde heiß, dann eiskalt, dann wieder heiß.
»Sie hatte eine Menge Alkohol getrunken. Hartes Zeug.
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