Villa des Schweigens
...«
»Aber?« Wir hingen an seinen Lippen.
»Aber als ich am Samstag meine Schublade aufgemachthabe, um es Gregor«, er schluckte hastig, »um es meinem Kumpel zu geben«, verbesserte er sich, »da war es nicht mehr da.«
»Nicht mehr da?« Ich flüsterte mehr, als dass ich fragte.
»Nicht mehr da«, wiederholte Julius. »Mit anderen Worten«, hier sah er von einem zum anderen, »Lauren hat es geklaut.«
»Lauren hat nie was geklaut«, protestierte Stefan sofort.
»Dann gibt es nur eine Alternative.« Julius schüttelte sich eine Zigarette aus der Packung und hielt sie zwischen Zeige- und Mittelfinger, so fest, dass sie fast auseinanderbrach.
»Es war jemand anders und er hat es für Lauren geklaut. Wollte ihr vielleicht helfen. Sie beruhigen.«
»Oder sie umbringen.« Ich hatte laut gedacht. Die Luft im Zimmer schien zu gefrieren, die Gesichter der anderen wurden zu starren Masken.
»Oder das«, sagte Julius leise.
Warum können sie nur keine Ruhe geben? Warum müssen sie immer weiterbohren, weiter herumstochern, den Dingen auf den Grund gehen wollen? Lauren ist tot – Halleluja! Selbstmord, was bitte gibt es da nicht zu verstehen?
Ich darf mich nicht aufregen. Wenn ich mich aufrege, habe ich keine Kontrolle mehr über mich. Ich muss ruhig bleiben. Durchatmen. Die anderen ablenken. Es lief doch bislang alles so glatt.
20. Kapitel
Es war geradezu gespenstisch, wie abrupt und still wir nach Julius' letzter Bemerkung auseinandergingen. Als ob das eben Gesagte sich damit auf wundersame Weise wieder verflüchtigen würde.
Claire fing sofort an, einen donnernden Marsch auf das Klavier zu hauen. Es klang, als ob sie sich abreagierte. Ich saß wie betäubt auf meinem Bett. Ich blätterte geistesabwesend in meinem Skizzenbuch, in das ich noch nicht einen Strich gezeichnet hatte, seit ich in der Villa war. Seufzend legte ich es auf meinen Schreibtisch. Jette hatte sich also beinahe umgebracht. Absichtlich? Und Lauren? Ein kaltes Kribbeln rieselte über meine Haut. Das war doch nicht normal, dass gleich zwei Leute in einem Haus ... Regte die Villa die Leute zum Selbstmord an, oder was? Wie in einem Horrorfilm? Einem verfluchten Haus? Gab es so was wirklich? Jemand knallte die Tür zu und verließ das Haus. Was sollte ich jetzt tun? Ich nahm einen Schluck von der Cola, die ich mit in mein Zimmer genommen hatte. Von nun an würde ich nichts mehr in den Kühlschrank stellen. Meine linke Hand umkrampfte immer noch den Zettel. Ich musste aktiv bleiben. Herausfinden,was zum Teufel hier vor sich ging. Mit dem Dreizeiler würde ich anfangen. Ich begab mich schnurstracks zu Claires Zimmer. Klopfte so lange und so laut, bis das Klavierspiel aufhörte.
»Ja?«, rief sie. Es klang gereizt. Ich trat ein.
»Claire, ich muss dir was zeigen«, begann ich ohne große Einleitung. »Ich hätte es dir schon längst zeigen sollen. Seit ich hier eingezogen bin, legt mir jemand so komische Sachen in mein Zimmer.«
»Was für Sachen?« Sie klang nur mäßig interessiert und blätterte in ihrem Notenbuch.
»Blumen. Und Schokolade. Solche, wie du sie hast. Die goldene.« Ich spürte, wie ich rot wurde.
»Im Ernst?« Sie sah mich belustigt an. »Meine Schokolade? Die ist aus der Confiserie Schwarz . Die kostet 'ne Menge. Ich dachte immer, ich bin die Einzige, die so viel Kohle dafür ausgibt.«
»Eben. Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll«, stammelte ich. »Du hast sie mir also nicht ins Zimmer gelegt?«
»Natürlich nicht. Ich meine, wenn ich gewusst hätte, dass du so darauf stehst, hätte ich dir natürlich was abgegeben.«
Ich fühlte mich irgendwie leicht gedemütigt. Sie schien das alles für einen Witz zu halten. Entschlossen zog ich die beiden Zettel hervor. »Da ist noch mehr. So komische Sprüche, Liebesgedichte, was weiß ich. Die hat mir jemand aufs Kissen gelegt.«
»Echt?« Sie griff nach einem der Zettel. »Hast dueinen heimlichen Verehrer? Wer sollte das wohl sein, der ...« Sie verstummte. Starrte auf den Zettel und biss sich auf die Lippe. »Woher hast du das?«
»Hab ich dir doch gesagt. Es lag auf meinem Bett. Und ich wusste erst gar nicht, was ich davon halten soll, so ein komisches Geschreibsel, reimt sich nicht mal, aber ich glaube jetzt, dass es ein Liebesgedicht ist.«
»Es ist ein Haiku«, sagte Claire. Ein seltsames schlaues Lächeln erschien in ihrem Gesicht.
»Ein Haiku?« Wir hatten diese Gedichtform im Deutschunterricht durchgenommen, vor etlichen Jahren mal. Ich konnte mich nur
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