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Villa des Schweigens

Villa des Schweigens

Titel: Villa des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Rylance
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noch vage erinnern. Claire schien sich ja bestens auszukennen. Ja, fast kam es mir vor, als ob sie das Gedicht kannte.
    »Immer drei Zeilen, die erste hat fünf Silben, die zweite sieben, die dritte wieder fünf.« Claire ließ den Zettel mit einem spöttischen Grinsen auf den Boden gleiten.
    »Hey!«, machte ich verblüfft.
    »Sorry. Dachte, du brauchst das nicht mehr.« Sie wischte sich die Finger an ihrer Hose ab, als hätte sie etwas Schleimiges berührt.
    »Nein, also ja, ich meine, ich würde ihn gern aufheben, um zu wissen, was das soll. Von wem das ist. Und ob es was mit Lauren zu tun hat. Die hat ja auch ein Gedicht aufgeschrieben. Angeblich«, setzte ich noch hinzu.
    »Ich glaube nicht, dass das Haiku was mit Laurenzu tun hat.« Claire wirkte auf einmal so abweisend. Kalt. Was war denn jetzt plötzlich? »Irgendeiner der Jungs hier ist wohl in dich verknallt. Ist ja nett, dass du mir das mitteilen willst, aber ehrlich gesagt interessiert es mich überhaupt nicht. Außerdem dachte ich, du hast einen Freund. Der Typ, den du zur Party angeschleppt hast.«
    »Aber Claire«, wehrte ich mich verwirrt. Welche Laus war ihr denn jetzt über die Leber gelaufen? Offenbar war sie neidisch auf mich. »Ich habe keinen Freund. Lars ist nur ein Bekannter.« Und leider jetzt auch so weit weg, dass er das wohl immer bleiben wird, dachte ich. »Ich habe keine Ahnung, von wem die Gedichte sind, deswegen wollte ich sie dir ja zeigen.«
    Claire sah mich nicht an. Sie fegte das Notenheft vom Flügel und klemmte ein neues an den Halter.
    »Ich habe zu tun, ich muss üben«, sagte sie und strich die Seite glatt. Dann fing sie mit rasend schnellen Fingerübungen an.
    Ich stand da wie bestellt und nicht abgeholt.
    »Claire«, versuchte ich es noch einmal. Sie stoppte, die Hände theatralisch erhoben. Sie drehte ihr Gesicht zu mir, lächelte angespannt.
    »Sieh mal – wer soll es schon groß sein? Benjamin? Wohl kaum, nach neuesten Erkenntnissen.« Sie gluckste. »Stefan? Sehr unwahrscheinlich. Er ist offensichtlich in jemand anderen verliebt. Bleibt nur noch einer übrig.« Sie sah mich lauernd an.
    »Julius?«, fragte ich. Das war doch völlig unmöglich.
    Claire antwortete nicht, sondern hämmerte in die Tasten.
    Wie ferngesteuert ging ich zu Julius' Zimmer. Klopfte auch da an und wartete eine halbe Ewigkeit, bis ich ein ersticktes »Ja?« hörte.
    Julius hatte alle Rollos heruntergezogen. Sein Zimmer war dämmrig, nur die Schreibtischlampe brannte. Wie eine Höhle, in der Julius auf dem Boden hockte, die Augen weit aufgerissen wie eine Fledermaus in einer Naturdokumentation.
    »Was is?«, nuschelte er. Neben ihm stand eine halb volle Flasche Whiskey. »Willst du mich noch mal fragen, ob ich ihr die Tabletten gegeben habe, hm? Ihr habt doch alle keine Ahnung.« Er winkte ab.
    »Wovon haben wir keine Ahnung?«, fragte ich.
    »Wie sich das anfühlt, wenn alle denken, dass man schuld am Tod von jemandem ist! Und wie es sich anfühlt, wenn man es selber fast glaubt!« Er gestikulierte wild mit dem Arm herum und ich fragte mich, wie viel er in der kurzen Zeit schon in sich hineingekippt hatte.
    »Das wollte ich dich nicht fragen«, sagte ich. »Es geht um was anderes.«
    Er schien mich nicht zu hören. »Ihr wisst doch gar nicht, wie das ist, wenn man einen Vater hat, der dauernd irgendwas erwartet und nie mit dem zufriedenist, was man macht. Der einen dauernd spüren lässt, dass man ein Loser ist.« Er drehte den Daumen nach unten wie ein despotischer Kaiser. »Eine Weile lang habe ich nur gekifft. Aber die Tabletten waren besser. Da ging das Gelaber von meinem Alten zum einem Ohr rein und zum anderen raus. War 'ne feine Zeit. Hey, ich hab sogar ein gutes Abi gemacht. Trotz der Pillen. Oder gerade deswegen?« Er kicherte leise und leicht irre vor sich hin.
    »Julius«, begann ich erneut, aber er unterbrach mich.
    »Er hat mir ein Motorrad geschenkt, wusstest du das?«
    Ich nickte unwillkürlich.
    »Eine Harley fürs Abi. Zuckerbrot und Peitsche. Und zwei Tage später habe ich sie zu Schrott gefahren. Und beinahe noch einen alten Opa mit hopsgehen lassen. Wenn ich nicht so einen Supervater hätte, wäre ich jetzt vorbestraft.« Er sah mich an, Tränen in den Augen. »Alles wegen den Pillen. Und wenn Claire und Stefan mich damals nicht überredet hätten, eine Entziehungskur zu machen ...« Er schniefte. »Glaub mir, ich nehm das Zeug nicht mehr. Und ich deale auch nicht damit. Und ich würde es nie jemandem einfach so geben!«
    Ich

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