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Villa des Schweigens

Villa des Schweigens

Titel: Villa des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Rylance
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wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war, als ob auf einmal alles aus ihm herausbrach. Das hatte es also mit dem alten Mann auf sich, den er beinahe umgebracht hatte. Julius tat mir leid. Ich unterdrückteden Impuls, ihn kurz zu umarmen. Da war immer noch das Haiku.
    »Schreibst du Gedichte?«, fragte ich kurz entschlossen und lehnte mich an die Wand.
    »Was?« Er blinzelte mich entgeistert an. »Gedichte?«
    »Haikus, genau genommen.«
    »Heikos? Wovon redest du? Ich lese manchmal Science-Fiction.« Er deutete auf ein kleines Regal, auf dem ein paar Bücher standen, die meisten dunkelblau mit greller Schrift.
    »Komm, lass dich fallen, es steht nichts auf der Welt zwischen dir und mir«, zitierte ich und kam mir unsagbar blöd vor. »Ist das von dir? Hast du mir das aufs Bett gelegt?«
    Julius ähnelte jetzt mehr als je zuvor einem Bündel Lumpen. Die spitzen, hängenden Schultern, die wirren Haare, das graue T-Shirt. Und sein total verständnisloser Blick.
    »Was?«, fragte er nur wieder. Mit leichtem Rascheln fiel ein Blatt von der Pinnwand hinter mir ab.
    »Vergiss es«, sagte ich müde. Ein Blinder konnte sehen, dass Julius das Haiku noch nie in seinem Leben gehört hatte. Ich bückte mich, um das Blatt aufzuheben. Eine Adresse stand darauf. Suchtberatung Nordstraße . Mit Füller geschrieben. Was hatte Benjamin gesagt? Es hat ja wohl jeder hier mit dem Ding geschrieben. Was für einen Grund hätte aber Julius, Lauren umzubringen?
    Ich griff nach dem Zettel und erstarrte. Etwas anderes auf dem Fußboden war in mein Blickfeld geraten. Halb versteckt, neben zwei Comics und einem alten, angebissenen Apfel lag ein Foto auf dem Parkett. Es zeigte Lauren und Julius nebeneinander. Sie lachten in die Kamera – sein Arm um ihre Schultern, in der Hand eine Bierflasche.
    Fluchtartig stürzte ich aus dem Raum.
    »He«, hörte ich ihn rufen. »Was genau hast du eigentlich gemeint? Bleib doch hier. Ich war das nicht mit den Tabletten, verdammt noch mal!«

21. Kapitel
    Ich musste hier raus. Ausziehen. So schnell wie möglich weg aus dieser gespenstischen Villa voller Mitbewohner, die logen, perverse Collagen anfertigten, sich in mein Zimmer einschlichen, die kriminelle Vergangenheiten hatten – oder auch eine kriminelle Gegenwart, wer wusste das schon. Weg aus diesem Haus, das der Tod berührt hatte, weg aus dieser WG, in der niemand mein Vertrauter war. Ich hatte Claire fast für eine Art Freundin gehalten. Aber wie sie mich gerade abgefertigt hatte – das musste ich mir nicht bieten lassen. Und es sah ganz so aus, als ob Julius den Zettel mit dem Heine-Gedicht geschrieben hatte. Dieselbe Schrift wie bei Suchtberatung Nordstraße . Also hatte er etwas mit Laurens Tod zu tun. Warum log er? »Er lügt immer!« , hatte Stefan geschrien. Aber Stefan war auch nicht viel besser. Mit Lauren Schluss machen, aber trotzdem noch mal schnell mit ihr Sex haben? War das wieder einer seiner Witze? Ich schüttelte mich. Dann griff ich nach meinem Handy und rief Lars an. Er war nicht zu erreichen. Verdammter Mist. Von meiner Mutter hatte ich eine E-Mail bekommen. Übermorgen wären sie wieder zu Hause, sie hätten eine Überraschung für mich aus Frankreich.Ich hatte auch eine Überraschung für sie – ich würde wieder nach Hause kommen. Sollte ich jetzt Biggi und Siggi anrufen? Oder zurück zu Franziska ziehen? Nach kurzem Zögern wählte ich ihre Nummer. Es dauerte ewig, ehe sie ranging. Sofort explodierte der Lärm ihrer kleinen Wohnung wieder in meinem Ohr. »Ich komme ja gleich«, schrie sie, noch bevor sie »Schmidt, Guten Tag?« sagte.
    »Franziska, ich bin's, Nina!«
    »Hallo, Nina! Wart mal kurz.« Sie legte das Telefon irgendwo ab und ich konnte sie beruhigend auf ihre Kinder einreden hören. Dann kam sie zurück und hatte offenbar eins auf dem Arm. »Da ist die liebe Nina dran«, sagte sie mit übertrieben sanfter Stimme. »Die immer so fein auf dich aufgepasst hat!«
    Ich hörte ein Baby gurgeln. Dann grapschte es offenbar nach dem Telefon.
    »Franziska«, setzte ich an. »Ich wollte fragen, ob ich ...«
    »Nein, nicht in den Mund!«, schrie es aus dem Hörer. Ich schloss kurz die Augen. Konnte die Szene lebhaft vor mir sehen. Und das bis zum Ende des Sommers? Es musste noch eine andere Lösung geben.
    »Gib der Mama das Telefon!«, schrillte Franziskas Stimme entnervt. Ich legte auf. Wahrscheinlich merkte sie es nicht einmal.
    Ich starrte in den Garten hinaus. Die roten Blüten waren mittlerweile alle abgefallen. Es war

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