Vilm 03 - Das Dickicht (German Edition)
striegeln lassen und nicht die geringsten Anstalten gemacht, seine Gedanken zu teilen. Und Vincent hatte sich eingestehen müssen, dass alle Momente, in denen er die Gefühle des zottigen Sechsfüßlers zu spüren geglaubt hatte, nichts als Einbildung gewesen waren. Am Abend des dritten Tages hatte er die Tür geöffnet und das Eingesicht war in den Regen hinausgetrottet, ohne ihn auch nur eines letzten Blickes zu würdigen.
Auf seinem Weg den Hang hinunter bis zur Stadt begegnete Vincent keinem einzigen Wolkentaucher, wie üblich. Aber er wusste, dass sie da waren.
Überall.
Als er am nächsten Morgen Than begegnete – Lukaschik hatte wieder mal ernsthafte Probleme und war vorsorglich weggesperrt worden –, fragte er ihn nach dem Rätsel der viel zu großen, viel zu produktiven Sämlingslinse.
Than schien ein Problem damit zu haben, dass Vincent den Zwischenfall des Vortages mit keinem Wort erwähnte, als hätte er nie stattgefunden. Er starrte den Fremden an, als habe er ihn nie zuvor gesehen.
»Wir sind nicht bis zum Ende weitergegangen«, sagte er schließlich.
»Und warum?«
Jemand, der Wolkentaucher auf seinen Händen trägt und sich von ihnen die Haare durcheinanderbringen lässt, darf dir solche Fragen stellen, sagte Vincents Körpersprache. Than hatte keine Ahnung davon und reagierte verunsichert.
»Dahinten wurde alles ... befremdend. Die Sämlingslinse produzierte immer seltsamere Artefakte, man konnte sie kaum noch Pflanze, Tier oder Gegenstand nennen ... wirklich schräges Zeugs ... und alles wurde ins Innere des Wolkengebirges abtransportiert. Das sah aus, als würde man ihm besser nicht weiter folgen.«
Vincent grinste breit.
»Ich verstehe sowieso nichts davon«, stellte er fest.
Than sagte nichts.
Du hast ja keine Ahnung, dachte Vincent.
Als er am Abend dieses Tages auf dem Dach der Stadt stand – kurioserweise ein Platz, den er ohne Thans Hilfe niemals gefunden hätte – war es ihm bereits egal, ob irgendein Vilmer ihn sehen würde, wenn er die Wolkentaucher rief. Er wollte nur endlich wissen, was von seinen Gedanken stimmte und was die kranken Ausdünstungen eines zerstörten Verstandes waren. Feuchte, durchdringende Nebelschwaden trieben über den Dächern der Stadt dahin, der Regen war ein dahinsickerndes, durchdringendes Gesprüh winzigster Tröpfchen.
In dieser Luft könnt ihr doch am besten schwimmen, dachte Vincent.
Und er hatte recht.
Hier und da umkreisten ihn die Wolkentaucher. Vincent erinnerte sich plötzlich an eine Dokumentation über Schmetterlinge, die er mal, zugedröhnt bis an die Augenbrauen, gesehen hatte. Streich sie schwarz, tränke sie in Öl, gib ihnen statt der Rüssel und der Hinterleiber je zwei Mäulchen mit winzigkleinen Zähnen, dachte er, und: Bingo! Ein Wolkentaucher.
Warum an Regendrachen glauben, wenn es Wolkentaucher gab?
Warum Wolkentaucher anlocken, wenn nur Regendrachen wirklich galten?
Warum auf einer Welt leben, die einen als minderwertig betrachtete, weil man keinen felligen Bestandteil besaß?
Vincent hörte auf zu denken, begann zu laufen und strengte sich sehr an dabei. Er sprintete zum Rand des Daches und sprang, ohne auch nur eine Zehntelsekunde zu zögern, hinaus in den herabprasselnden Regen.
Dort war er nicht allein. Die herumschwirrenden Wolkentaucher, ganze Heerscharen von ihnen, dichte Schwärme winziger Körper zwischen großen nässeschimmernden Flughäuten, fingen seinen fallenden Körper auf und trugen ihn hinaus in den dunstigen Nebel, der wie fast immer rund um die Stadt waberte und unaufhörlich aus dem Dickicht herausströmte, als wären die Regendrachen selbst es, die ihn ausatmeten.
Niemand sah, wie Vincent im Wolkengebirge verschwand.
16. Büro-in-den-Wolken • 3
Will zwinkerte. Es strömte unglaublich viel Licht durch die Fenster seines Büros. Beinahe schien der Regen eine Pause machen zu wollen. Vielleicht würde sogar die Sonne durchbrechen.
Das wäre ein bisschen paradox, dachte der Administrator, der sehr wohl im Klaren darüber war, dass seine Laune düsterer nicht hätte sein können. Der dampfende, frischgebrühte Kaffee in der Tasse vor ihm konnte daran nichts ändern.
Sergios Thanassatrides kannte den Vilmer inzwischen gut genug, um an der Haltung des Eingesichts abzulesen, wie es ihm ging. Er saß in dem berühmten Besucherstuhl, den schon päpstliche Botschafter, luciferantische Hochmeister und Statthalter des Flottenkommandos benutzt hatten, und hatte sich fest vorgenommen, erst dann etwas zu
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