Violas bewegtes Leben
reichhaltigen Angebot gefüllt sind: kleine Cornflakesschachteln in Porzellanschüsseln, frisch geschnittene Grapefruit, halbierte Bananen, Bagels. Es gibt auch einen Bereich, wo man warmes Essen bestellen kann, zum Beispiel die Pfannkuchen, von denen Marisol gestern Abend so schwärmte. Ich merke mir, wo die Schlange endet.
Erst will ich meine Mitbewohnerinnen finden. Ich beginne bei den Tischen an der Tür, runde Tische aus Walnusslaminat mit orangenen, blauen und grünen Plastikstühlen. Ich suche dieTische nach bekannten Gesichtern ab. Dann drehe ich mich um. Ein paar Mädchen schauen mich an. Vielleicht liegt es an meinem Halstuch, aber sie scannen mich ultraschnell und widmen sich dann wieder ihrem Frühstück. Endlich entdecke ich Marisols glänzendes schwarzes Haar, das zu einem Zopf geflochten ist. Ich winke. Marisol winkt zurück und wendet sich dann wieder Suzanne zu, die Sirup auf ihre Pfannkuchen tropfen lässt. Romy nippt an ihrem Orangensaft und schaut in die andere Richtung. Ein eiskalter Wintersturm zieht durch mich hindurch, während ich mich zu meinen Mitbewohnerinnen durchschlängle.
»Hallo, Leute«, sage ich und ziehe einen Stuhl heran. Sie grüßen zurück, aber es klingt alles andere als begeistert. »Wie sind die Pfannkuchen?«, frage ich.
»Sie sind lecker«, sagt Marisol.
»Wisst ihr, ihr hättet mich ruhig wecken können. Also, in Zukunft könnt ihr das gerne tun.«
»Wir dachten nicht, dass du früh aufstehen willst«, sagt Suzanne geradeheraus.
»Ich bin zur Sporthalle rüber und eine Runde auf dem Laufband gelaufen«, sagt Romy. »Das mach ich jeden Morgen.«
Ich bin noch nie in meinem Leben zu Trainingszwecken gerannt, aber das werde ich keinesfalls zugeben. »Super«, sage ich zu ihr.
»Und ich war bei einem Rundgang über das Schulgelände.« Marisol lächelt. »Trish hat eine Führung mit uns gemacht.«
»Oh, da wäre ich auch gerne mitgekommen«, sage ich zu ihr.
»Ach ja?« Marisol schaut Suzanne und Romy an.
»Hört mal, ich weiß, ich war gestern schlecht drauf …« Es nur auszusprechen treibt mir fast die Tränen in die Augen, aber ichverkneife sie mir. »Es tut mir wirklich leid. Das hatte nichts mit euch zu tun – es liegt an mir.«
Suzanne schaut zu Marisol, die wiederum zu Romy schaut. »Also, wir dachten …«
»Was denn?« Ich klinge fast verzweifelt.
»Wir haben gehört, du willst ein Einzelzimmer und ziehst demnächst aus.« Suzanne zuckt mit den Schultern.
»Das ist noch nicht sicher.«
»Trish sagte heute Morgen, es wäre eins frei geworden und du würdest immer noch ein Einzelzimmer wollen.« Marisol schaut auf ihren Teller. Diese Trish redet ganz schön viel.
»Na ja …« Keine Ahnung, warum diese Worte aus meinem Mund kommen, aber sie tun es: »Ich muss das Einzelzimmer ja nicht nehmen.«
»Das solltest du aber, wenn es dich glücklich macht«, sagt Romy.
»Ich weiß nicht, was mich glücklich macht.« In meinen Augen brennen Tränen. Ich kann es nicht fassen, dass diese drei Mädchen hier über mich geredet haben und zu dem Entschluss gekommen sind, dass es sich nicht lohnt, um mich zu kämpfen, nach nur einem Tag. Einem einzigen Tag!
»Das hat man gestern gemerkt. Du schienst ziemlich … genervt.« Marisol wählt ihre Worte mit Bedacht.
»Wir sind alle neu hier. Das scheinst du zu vergessen.« Suzanne klingt fast wie ein UN-Diplomat. »Es ist für uns alle schwer. Deshalb solltest du das tun, was gut für dich ist, denn ehrlich gesagt: Wir wollen in unserem Zimmer Spaß haben und können niemanden gebrauchen, der uns runterzieht.«
»Ich zieh euch doch nicht runter. Und … ich war nicht wegen dir genervt.« Ich wende mich an Romy. »Oder wegen dir.« Ichschaue Marisol an. »Oder gar wegen dir.« Ich hole tief Luft. »Ich brauche einfach lange, um mich an eine neue Umgebung zu gewöhnen.«
Marisol lächelt erleichtert. Sie schaut die Mädchen an. »Ich habe euch doch gesagt, Viola hat einen ganz eigenen Sinn für Humor. Ich glaube, wir haben ihr Verhalten einfach falsch interpretiert.«
»Genau. Absolut. Ich habe mich auf die Liste für ein Einzelzimmer setzen lassen, als ich mich hier bewarb. Jetzt bin ich hier und hab es mir anders überlegt.« Ich brauche ihnen ja nicht zu sagen, dass ich selbst von mir schockiert bin, weil ich ein Einzelzimmer ablehne. Die müssen mich doch für völlig durchgedreht halten. Ich weiß nicht, wie ich morgen darüber denken werde, aber ich weiß ganz genau, dass ich nicht noch einmal morgens aufwachen
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