Violas bewegtes Leben
verehren, die heilige Maria von Guadelupe, und es gibt eine Statue von ihr, die echte Tränen weint. Meine Mutter hat es mit eigenen Augen gesehen. Sie ist mit einer Pilgergruppe dorthin gereist.«
Ich setze mich so hastig auf, dass ich mich festhalten muss, um nicht vom Bett zu kippen. Marisol und Caitlin sind sich so was von ähnlich – falls sie sich je kennenlernen sollten, werden sie sofort beste Freundinnen sein. Sie sind beide unglaublich spirituell.
Marisol fährt fort: »Deshalb glaube ich sehr wohl, dass Menschen aus dem Jenseits zu Besuch kommen können. Das Problem ist nur: Was tut man dann? Man weiß ja nicht sofort, was das zu bedeuten hat.«
»May McGlynn will etwas von mir, aber was? Warum ist sie nicht zu dem Typen gegangen, der Slumdog Millionaire gedreht hat? Warum ist sie auf meinen Aufnahmen aufgetaucht? Ich bin ein Niemand.«
»Du bist alles, was sie hat. Sie ist in South Bend gestorben. Offenbar braucht sie jemanden in South Bend, der eine Kamera hat.«
»Ich wünschte, ich hätte nie von May McGlynn gehört. Am besten, ich verkaufe meine Kamera. Dann brauche ich nie wieder was mit der Sache zu tun haben.«
»Sag das nicht, Viola. Du darfst deine Kamera nicht verkaufen. Du hast Talent. Jede Neuntklässlerin hier an der Schule wünschte, sie wäre du. Egal, wohin du gehst, du hast eine Kamera dabei – das ist wie ein Lebenszweck. Dafür solltest du dankbar sein.«
Marisols Worte klingen vernünftig. Wie immer. Aber sie kann es sich leisten, mir gut zuzureden, weil diese seltsamen Dinge nicht ihr passieren. Und machen wir uns nichts vor: Sie ist Mexikanerin, und die beten nun mal Statuen an und glauben, dass ihre Heiligen echte Tränen weinen.
Und an alle da draußen, die glauben, wenn man einen Jungen drei Mal geküsst hat, wäre auf einmal alles glasklar, als würde das, was man sich ersehnt hat, einem Erleuchtung und Gelassenheit bringen – vergesst es. Es stresst nur noch mehr. Es ist zwar kein negativer Stress, aber es bedeutet Veränderung, und genau davon wünsche ich mir zur Zeit eindeutig weniger.
Mein Handy leuchtet auf. Ich lese die Nachricht.
Jared: Alles Gute zum Truthahntag. Habe deinen Vogel bekommen und mich sehr gefreut. Bis bald. XO
»Von wem ist sie?« fragt Marisol. »Von deinem Freund?«
»Ja.«
Ich schreibe zurück.
Ich: Gute Rückfahrt zur GSA.
JS: Dir auch.
Ich: XO
JS: XOXO
Ich lege das Handy weg. Zweimal XO von Jared Spenser haben diesen Tag perfekt gemacht.
Der Zug zurück nach South Bend ist vollgestopft mit Collegestudenten von Notre Dame und Saint Mary’s und der Saint Joseph’s Academy. Sie sind laut und lachen viel, und die meisten haben große Tüten dabei mit den Resten des Festessens. Wir auch. Suzannes Mutter hat jedem von uns für die Heimfahrt ein Truthahnsandwich eingepackt, eine Tüte Chips und ein Stück Kürbiskuchen. Da ich leckeres Essen noch nie aufheben konnte, packe ich mein Brot aus, sobald wir im Zug sitzen.
»Danke für das schöne Wochenende«, sagt Marisol zu Suzanne.
»Ich bin froh, dass ihr mitgekommen seid.«
»Deine Familie hat sich echt Mühe gegeben, dass wir uns wohlfühlen«, sagt Romy.
»Du meinst Kevin«, sage ich, während ich an meinem Brot kaue.
»Er war nett zu mir«, sagt Romy einfach nur. »Hat er eine Freundin am College?«
»Ja.« Suzanne zuckt mit den Schultern und prüft ihr Handy. Romy sieht enttäuscht aus.
Suzanne fährt fort: »Aber wir hassen sie alle. Sie sieht gut aus, aber sie kichert immer so blöd.«
Das zaubert sofort einen Hoffnungsschimmer auf Romys Gesicht.
Sie ist das perfekte Beispiel für ein eigentlich vernünftiges Mädchen, das auf der Stelle den Verstand verliert, wenn ihr ein Junge gefällt. Dabei weiß sie doch, wie das Spiel läuft. Sie denktdoch nicht im Ernst, dass ein Junge auf dem College das ganze Schuljahr über ohne Freundin herumsitzt und nur lernt? Sie kann doch nicht glauben, dass Kevin nun denkt: »Romy ist erst vierzehn, also warte ich einfach vier Jahre, bis sie achtzehn ist, und lade sie dann ins Kino ein.« Das ist doch verrückt.
»Ist es was Ernstes?«, will Romy von Suzanne wissen.
»Was denn?« Suzanne steckt ihr Handy in die Handtasche.
»Kevin und seine Freundin.«
»Keine Ahnung«, sagt Suzanne schulterzuckend.
»Na ja, sie ist jedenfalls nicht an Thanksgiving mit zu euch gekommen.« Romy lässt nicht locker.
Marisol und ich schauen uns an. Am liebsten würde ich ihr sagen: »Spielt es denn eine Rolle, ob es was Ernstes
Weitere Kostenlose Bücher