Violett ist erst der Anfang
ein bahnbrechendes Liebesgedicht gewidmet. Für dich gebe ich mein letztes Bonbon, Baby. Joar mei, im Zeitalter von hohler Scripted Reality in der Glotze klang dieser Text tatsächlich beinahe nach Goethe.
Ewa lutschte los. »Ja geil. Der fetzt.«
»Na bitte.« Jule lächelte, öffnete die Tür ins Freie und aaarg, dieses Licht, dieses Licht! Als bombardierten Aliens sie mit Blendgranaten, riss Jule die Arme vors Gesicht, taumelte rückwärts und suchte Zuflucht im Flur. So mussten sich Vampire fühlen. Heller Tag war nicht zu ertragen, und Jules strapazierte Augen tränten los.
»Hier.« Ewa drückte ihr etwas in die Hand. »Setz auf.«
»Äh … woher hast du denn auf einmal diese Sonnenbrille, Süße?«
»Die lag da rum.«
»Bei Kai-Uwe?«
»Neben dem Telefon auf der Kommode.«
»Wie bitte?« Jule schluckte. »Heißt das, du hast das Ding geklaut, Bogacz?«
»Nur geborgt. Auf Alicjas Hochzeit kann ich sie ihm doch zurückgeben. Merkt der bis dahin hundert Pro nicht. Sekunde, ich helf dir.« Erst zog Ewa ihr die Eulenbrille von der Nase, dann puzzelte sie die prollige Pilotenbrille mit verspiegelten Gläsern in Jules Gesicht. Jeder Zuhälter wäre bei diesem Look vor Neid erblasst, jede Wette. »Geht’s? Brennt doll noch? Mensch, lass uns besser aus der Apotheke Augentropfen holen.« Ewa trat hinaus und marschierte los.
»Stopp!« Jule verharrte auf der Türschwelle.
»Äh … was ist?« Ewa kehrte zurück. »Wieso bleibst du stehen?«
»Weil ich nichts sehe, Bogacz, verdammt nochmal! Ich trage keine Linsen mehr, in der Sonnenbrille ist keine Sehstärke und …«
»Wie weit kannst du denn gucken?«
Jule seufzte. »Das willst du nicht wissen.«
»Verstehe. Geht der Mülleimer da vorne noch?«
»Welcher? Ach, du meinst den grünen Punkt?«
»Er ist rot«, sagte Ewa. »Das kleine grüne ist ein Kind.«
»Oh. Süße, liegt an den getönten Gläsern«, verteidigte sich Jule. »Steht wieder ein Spruch auf dem Mülleimer-Dings?«
»Jep. Alles im Eimer.«
Ach du tolle Tonne, bist du klug. Die aktuelle Lage war tatsächlich zum Wegschmeißen. Jule fühlte sich gefangen in einem Kunstwerk. Impressionismus. Überall nur abgedunkelte Kleckse, die ineinandermatschten. Ein verwässertes, vermurkstes Aquarell. Natürlich nahm sie die Welt wahr, so vom Prinzip her, angereichert mit viel Fantasie, aber scharf war nichts. Abgesehen von den Dingen, die sie im Radius von etwa dreißig Zentimetern umgaben. Akut tummelte sich da nur Ewa.
»Jule, folgendes«, meinte sie und wuschelte sich durchs Haar. »Ich setz dich jetzt an einen Tisch dort drüben vor das Café. Du trinkst entspannt was auch immer, ohne Alkohol bitte, und ich besorge die Tropfen. Dann entspannst du weiter, ich erledige währenddessen Hochzeitszeug von Alicjas Liste. Müsste schnell gehen. Einiges davon ist in dieser Straße hier. Lange Reihe. Danach hol dich wieder ab. Deal?«
Deal. Welche Wahl hatte Jule schon? Untergehakt bei ihrer noch immer etwas proseccotattrigen Freundin absolvierte sie die paar Meter zum Café im vorsichtigen Großmutterschlurfschritt. Wirkte französisch, dieses Kaffeehaus, zumindest standen davor eine Handvoll Zweiertische dicht an dicht gedrängt. Soweit Jule die Lage überblicken konnte, und das hieß nicht viel momentan. Altenpflegergleich stützte Ewa sie beim Hinsetzen, wickelte ihr eine der bereitliegenden Decken um die Beine und hauchte ihr ein Küsschen auf die Stirn.
»Bin gleich wieder da«, sagte der Zwerg und war weg.
Tja. Jule studierte die Karte, zur Tarnung, in Wahrheit entzifferte sie keinen einzigen Buchstaben.
»Was darf ich der Dame bringen?« Ein sprechender Schatten.
So relaxt als möglich rückte Jule an ihrer Porno-Pilotenbrille. »Latte macchiato. Doppelt Espresso drin. Und bitte mit Strohhalm.«
»Gern«, sagte der Schatten. »Stückchen Torte dazu?«
»Nein!« Ups. Sie hatte gebrüllt. Hochzeitstortentrauma, sorry.
»O-oh-okay. War nur eine Empfehlung. Falls Sie Hunger haben, einfach die Karte lesen.«
Wie witzig, du Pflaume. Egal. Irgendwann hielt Jule das warme Glas in ihren Fingern und saugte Kaffee. Perfekt, bis sich etwas Kleines neben sie schob. Schock, sie zuckte zusammen, es beugte sich bedrohlich tiefer, ach Ewa. Die nahm Jule die Brille ab.
»Augen auf«, lautete der Bogacz-Befehl, ehe ihr Ewa behutsam Tropfen auf die Pupille träufelte.
Welch Wohltat. Mein Schatz, mein Held! Was würde ich ohne dich tun? Jule seufzte dankbar, und hörte Schlürfen.
»Boar, geiler Kaffee.
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