VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
vergewissern, ob Sie auch wirklich mit Mrs Briggerman verwandet sind.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Ich denke, für einen kurzen Besuch ist es noch nicht zu spät.«
»Oh, vielen, vielen Dank!« Hi strahlte. »Jetzt weiß ich, warum sich meine Eltern für diesen Ort entschieden haben.«
Miss Parrish führte uns vom Hauptgebäude zu einer Reihe von Appartements, die zum Fluss hinausgingen. Man merkte ihr an, dass sie ihre Verärgerung nur mit Mühe überspielte.
»Wir kriegen noch tierischen Ärger«, zischte ich. »Was ist, wenn Tante Syl uns auffliegen lässt?«
»Na und? Sie ist doch dement«, gab Hi zurück. »Da erkennt sie eh niemanden.«
»Das ist zynisch.«
»Alte Leute lieben es, Besuch zu bekommen. Auch von falschen Verwandten.«
»Meinst du?«
»Wir können ihr ja auch einen Gefallen tun. Ihren Eiswürfelbehälter auffüllen oder ihre Kissen aufschütteln.« Hi zuckte die Schultern. »Aber wir haben eben einen Mord aufzuklären, verdammt. Da wird sie uns schon verzeihen.«
»So, da sind wir.« Roberta Parrish klopfte an die hellblaue Tür. »Liebe Sylvia, Sie haben Besuch!«
Die Tür schwang auf.
Sylvia Briggerman war winzig klein und trug ein Kleid, das Lucille Ball bestimmt stolz gemacht hätte. Ich vermutete, dass sie jenseits der Neunzig war.
»Wer ist da?« Hinter den dicken Bifokalgläsern sahen Sylvias Augen riesengroß aus. »Besuch?«
»Ja, Ihre Großnichte und Ihr Großneffe sind hier.« Miss Parrish sprach laut und deutlich. »Sie sind extra aus der Stadt gekommen, um Sie zu besuchen.«
»Ich habe keinen Neffen.«
Na super, schon aufgeflogen.
Dann hellte sich Sylvias Gesicht auf. »Katherine?«
Oh Gott. Nein.
Das war zu grausam. Ich konnte das nicht tun.
Hi gab mir einen leichten Stoß in den Rücken. Dann noch einen. Seine Schuhspitze traf meine Ferse.
»Ja, äh, Tante Sylvia …« Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken. »Ich bin es, du erinnerst dich doch …«
»Aber natürlich, Dummchen!« Sylivia drehte sich zu Miss Parrish um. »Lassen Sie meine Nichte und ihren kleinen Freund doch nicht draußen stehen. Holen Sie sie herein.«
Miss Parrish winkte uns herein. »Sie erkennt Sie bestimmt wieder«, flüsterte sie, als Hi an ihr vorbeiging. Ihre Erinnerung kommt und geht.«
Hi nickte feierlich. »Danke. Sie leisten hier vorzügliche Arbeit. Ich werde es meine Eltern wissen lassen.«
Jetzt war es offiziell. Wir kannten keine Skrupel.
»Ich bin in fünf Minuten wieder da.« Miss Parrish schloss leise die Tür hinter sich.
Sylvias Wohnzimmer war in Kanariengelb gehalten. Ein Buchregal zog sich an der Wand entlang. In einer Ecke stand eine Lesemaschine. Eine kleine Sitzgruppe, ein Couchtisch, ein betagter Fernseher. Plastikblumen auf jeder horizontalen Fläche.
Die alte Frau saß auf einem Sofa mit Plastiküberzug und zog ihren Rock gerade. Als sie aufblickte, hoben sich erstaunt ihre Augenbrauen.
»Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«
»Guten Tag, Mrs Briggerman.« Keine Lügen mehr. »Mein Name ist Tory Brennan. Und das ist mein Freund Hiram. Wir sind wegen Ihrer Nichte Katherine gekommen.«
»Oh.« Sylvia zog die Ärmel ihres Abendkleids nach unten. »Wo ist Katherine? Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen.«
»Wir sind nicht ganz sicher«, entgegnete ich vorsichtig. »Auch wir suchen nach ihr.«
Was der Wahrheit entsprach, zumindest bis zu einem gewissen Zeitpunkt.
»Ach, die ist ständig unterwegs.« Sylvia lächelte. »Immer am Strand. Sie will später aufs College gehen, Ökologie oder so was studieren. Ich weiß nicht genau, was das ist, aber Frankie wäre bestimmt stolz auf sie.«
»Frankie ist doch Ihr Bruder?«, wagte Hiram sich vor. »Ich dachte, er wäre im Waisenhaus aufgewachsen.«
»Das ist er auch, junger Mann. Genau wie ich.«
Sylvia zeigte auf ein Schwarz-Weiß-Foto, das über dem Buchregal hing. Ein Junge und ein Mädchen in abgetragenen, aber gut geflickten Kleidern standen vor einer Schaukel und einer Wippe. Das Mädchen war ein wenig älter und hielt den Jungen an der Hand. Beide lächelten wie am Weihnachtsabend.
»Frankie und ich waren nicht verwandt, aber wir sind zusammen aufgewachsen. Katherine nennt mich immer ›Tante Syl‹.«
»Was hat Katherine denn gemacht, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben?«
»Sie hat an ihrem naturwissenschaftlichen Projekt gearbeitet«, antwortete Sylvia. »Das Projekt, das sie mit Abby für die Schule gemacht hat.« Eine tiefe Furche zog sich über ihren Nasenrücken.
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