Virtuosity - Liebe um jeden Preis
Hustensaft mit Erdbeergeschmack.
Ich saß auf dem Bett und studierte sie erneut. Und dann noch mal. Ich starrte auf das Foto, hasste dieses puttenhafte Kleine-Jungs-Grinsen und las dann wieder die langatmige Beschreibung seiner fantastischen Karriere. Jedes einzelne Wort triefte vor Ego. Ich klappte das Programm zu, das inzwischen zahlreiche Eselsohren aufwies, und legte mich zurück ins Bett.
Wahrscheinlich hatte er den Text gar nicht selbst verfasst. Das wusste ich. Schließlich hatte ich meine Vita auch nicht selbst geschrieben. Aber seit gestern hatte sein herablassendes Grinsen einen permanenten Abdruck auf meinem Gehirn hinterlassen und ich konnte mir bestens vorstellen, wie er am Computer saß und an Sätzen bastelte wie »Sein goldener Ton und zarter Strich haben das Publikum auf allen Kontinenten zu Tränen gerührt«. Ich war fast überrascht, dass nicht behauptet wurde, sein Vibrato könne Krebs heilen.
Rein geschäftlich gesehen verstand ich es schon, warum so dick aufgetragen wurde. Die Vita muss jedem, der gerade einen Haufen Geld für Konzertkarten ausgegeben hatte, sagen, dass er bald den besten Geiger auf der ganzen Welt erleben würde. Aber deshalb las es sich nicht gerade besser.
Ich ließ mich zurück auf mein Kissen fallen und starrte an die Decke, dann spielte ich die ersten Takte des Tschaikowsky-Konzerts mit meiner linken Hand auf der Matratze. Mein Auftritt mit dem Chicago Symphony Orchestra war am Samstag. Jeremys war morgen. Die Konzerte sollten das Publikum für den Wettbewerb interessieren, aber ich hatte meine Zweifel. Chicago hat sechs Sportmannschaften, die auf nationaler Ebene spielen. Der durchschnittliche Bürger Chicagos schert sich einen Dreck um irgendeinen Geigen-Wettbewerb.
In den Unterlagen des Symphonieorchesters, in die ich letzte Woche im CSO-Büro geschielt hatte, hatte ich sehen können, dass Jeremy das Beethoven-Konzert aufführen würde. Das bedeutete, dass er es wahrscheinlich auch im Guarneri-Wettbewerb spielen würde.
Ich warf das Programm in die Luft und sah zu, wie die Seiten sich auffächerten, als das Heft zu Boden flatterte. Jeremys Lebenslauf gab nichts als Basisinformationen preis. Er war in London geboren und aufgewachsen und ein Stipendiat der Yehudi Menuhin School of Music. Danach las sie sich so ziemlich wie meine eigene. Er hatte die britischen und europäischen Äquivalente meiner amerikanischen Wettbewerbe gewonnen, mit denen in meiner Vita geprahlt wurde. Wir hatten sogar unseren ersten Soloauftritt mit einem Symphonieorchester im gleichen Alter gehabt – mit neun. Nichts davon half mir weiter bei dem, was ich wissen musste. Es brachte mir auch nichts, dass ich ihn aus dem Symphony Center hatte kommen sehen oder dass ich seine widerwärtigen E-Mails bekommen hatte.
Eine Sirene heulte vor meinem Fenster auf und wurde dann schwächer, während sie in Richtung Osten auf den Michigan See zufuhr. In Richtung Symphony Center.
Ich musste hören, wie er spielte.
Inderal war meine Rettung gewesen. Ich hasste alles an diesen pudrig-orangefarbenen sechseckigen Tabletten, angefangen mit dem bitteren Geschmack, den sie auf meiner Zunge hinterließen. Aberich hatte keine andere Wahl mehr. Je öfter ich sie nahm, desto öfter musste ich gerettet werden.
Die ganze Sache hatte mit Diana begonnen. Nein, das ist nicht ganz fair. Es hatte mit dem furchtbarsten Auftritt meines Lebens angefangen.
Vor Tokio hatte ich mir nie großartig Gedanken über Lampenfieber gemacht. Schließlich war ich auf der Bühne aufgewachsen. Alle Probleme, die ich mit meinen Nerven gehabt hatte, waren ausgestanden, ehe ich sieben Jahre alt war. Nerven waren für diejenigen, die nicht genug geübt oder nicht genug Talent hatten und nach einer Ausrede suchten.
Aber dann kam Tokio. Das war letztes Frühjahr, das Abschlusskonzert meiner Asientournee und ich spielte auf meiner neuen Strad. Alles war wie immer. Ich stand links hinter der Bühne und wartete auf das Signal, ins Rampenlicht zu treten. Diana fummelte an der lilafarbenen Lotusblüte in meinem Haar und pickte Fäden von meinem Abendkleid aus Bastseide. Sie flatterte – ihre Art, mit dem Stress umzugehen. Aber es war nicht ihr Verhalten, das mich aus dem Konzept brachte.
Die Tokioer Philharmonie hatte gerade die Instrumente gestimmt und das Publikum war nach der Pause zurück in den Saal gekommen. Das Konzert war ausverkauft, aber das Publikum störte mich auch nicht. Volle Häuser waren normal für mich und das Publikum war
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