Virtuosity - Liebe um jeden Preis
dieses Desaster. Wenn ich doch nur Brahms gespielt hätte. Dann hätte ich einfach mit fliegenden Fingern und knallenden Saiten drauflos spielen und mein Lampenfieber verstecken können, bis ich es unter Kontrolle gehabt hätte. Sibelius war zu ruhig, zu transparent. Gleich auf der ersten Note rutschte mein Bogen aus und machte einen Hüpfer. Mein Vibrato war zu verkrampft, aber ich konnte es nicht lockern, und dann schoss ich auch noch zu allem Überfluss beim ersten Lagenwechsel über das Ziel hinaus.
Die schiefe Note hing in der Luft und klang allen in der Konzerthalle in den Ohren. Ich spürte die Enttäuschung jedes einzelnen Musikers. Nein, keine Enttäuschung. Genugtuung.
Es folgten weitere Ausrutscher, weitere ungelenke Bogenwechsel und weitere Höllenqualen, bis mein Herz endlich etwas ruhiger wurde und irgendwann wieder normal zu schlagen begann. Schließlich hörte auch das Zittern der Finger auf und ich schaltete auf Autopilot um, damit ich mich irgendwo weit weg in meinem Gehirn verstecken und so tun konnte, als wäre ich woanders. Tausende Stunden des Übens trieben meinen Körper durch das Konzert. An den Rest erinnerte ich mich kaum.
Das Trara nach dem Konzert war die reinste Folter. Das gezwungene Lächeln und das Geschleime zog sich unerträglich in die Länge, zuerst mit den Musikern, dann mit dem Dirigenten und schließlich mit den reichen Gönnern, deren Spenden ihnen Zugang zu jedem verschafften, den sie gern kennenlernen wollten. Ich war der Kaiser in seinen neuen Kleidern und niemand wollte zugeben, dass ich an diesem Abend nackt war. Aber wir wussten es alle. Ich war furchtbar schlecht gewesen.
Als wir endlich in das Taxi stiegen, das uns zurück zum Hotel brachte, legte ich den Kopf auf Dianas Schoß und heulte wie ein kleines Mädchen. Sie sagte kaum etwas, sondern zog die Haarspangen aus meinem Haar, kämmte meine Locken mit den Fingern durch und ließ zu, dass ich ihren weißen Rock mit Wimperntusche verschmierte.
Diana stellte es sehr schlau an. Sie wartete zwei Wochen lang,bis wir wieder zu Hause waren und die Erniedrigung verblasst war. Diese zwei Wochen hatte ich damit verbracht, viel zu lesen, täglich mit Clark joggen zu gehen und mir America’s Next Top Model in Marathon-Sitzungen reinzuziehen. Ich hatte nur ungefähr eine Stunde am Tag geübt. Das war toll.
»Schokolade?«, fragte sie mich und hielt mir eine Schachtel mit meiner Lieblingssorte, Schoko-Trüffel, unter die Nase. Ich lag ausgestreckt auf dem Sofa und las gerade Mein Name ist Ascher Lev.
»Sicher doch.« Ich nahm einen und schob ihn mir in den Mund.
»Hast du das nicht schon mal gelesen?«, wollte sie wissen und setzte sich neben mich, sodass ich meine Beine anwinkeln musste, um ihr Platz zu machen.
»Jep.« Ich ließ den Trüffel in meinem Mund zerschmelzen und blätterte um.
»Also, lass uns mal über Tokio reden.«
Sie bemühte sich sehr, beiläufig zu klingen, aber die Worte sprangen hervor, als hätte sie vor meinen Augen mit den Fingern geschnippt.
»Tokio«, antwortete ich.
»Ja, Tokio.«
Ich hatte die letzten beiden Wochen damit verbracht, das Konzert aus meinen Gedanken zu verbannen. Jetzt, da ich mich gezwungen sah, daran zu denken, hatte ich plötzlich das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
»Das darf nicht noch mal passieren«, sagte sie. Ihre Worte waren langsam und bedächtig. »Noch so eine Katastrophe wie diese und deine Karriere ist dahin.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, erwiderte ich leise. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Es ist nur …«
»Ich weiß schon, Schätzchen.« Sie streckte mir wieder die glänzende Goldschachtel mit den Trüffeln entgegen, aber ich schüttelteden Kopf. »Ich habe über eine Lösung nachgedacht und hab da eine Idee. Juri findet sie gut.«
Ich wartete. Eine Lösung . Es war mir nicht einmal in den Sinn gekommen, dass jemand anderes diese Angelegenheit geradebiegen könnte.
»Wir können es nicht ignorieren. Es wird wieder passieren und da macht es gar nichts, wie unglaublich gut du wirklich spielen kannst, wenn du auf der Bühne auseinanderfällst.«
Es klang, als hätte sie ihre kleine Ansprache einstudiert. Sie starrte dabei auf ein Gemälde an der Wand.
»Lampenfieber ist ein Problem für viele Musiker«, fuhr sie fort. »Tatsächlich ist es eine richtige Störung und es gibt Medikamente, die dir dabei helfen können, damit umzugehen. Sie heißen Betablocker.« Sie räusperte sich. »Wenn du möchtest, könnten wir dir ein Rezept
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