Virtuosity - Liebe um jeden Preis
der Straße los und sah mich an. »Nun, dafür ist es jetzt zu spät, nicht wahr?«
Ihr Fuß wippte nicht mehr. Der Schuh fiel von ihrem Zeh und landete seitlich auf dem Boden.
Das war es also. Sie dachte, ich sei zu zerbrechlich. Sie dachte, wenn ich wüsste, wie fantastisch er spielte, würde ich dichtmachen und einfach aufgeben.
»Das Konzert war vor vier Stunden zu Ende. Wo warst du?«
Ich folgte ihrem Blick aus dem Fenster. Sie musste ihn auf der Rückbank des Taxis gesehen haben. Vielleicht hatte sie sogar mitbekommen, wie er mich geküsst hatte. Ein Funken Wut flackerte in mir auf. Warum fragte sie, wenn sie das Ganze sowieso gesehen hatte? Und warum glaubte sie, ich würde alles preisgeben? Dieser Moment ging sie gar nichts an.
Aber es war ganz gleichgültig. Ich hatte keine Lust mehr zu lügen. »Ich war mit Jeremy unterwegs.«
»Und was habt ihr gemacht?«
»Wir haben im Millennium Park gesessen, Pizza gegessen und uns unterhalten.«
Sie hob eine Augenbraue. Sie hatte es gesehen.
»Wie lange kennst du ihn schon und warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Ich habe ihn erst heute Abend nach dem Konzert kennengelernt.«
Ihre Augen verengten sich.
»Das ist die Wahrheit«, sagte ich ruhig. Ich würde ihr keinesfalls die Genugtuung geben zu zeigen, wie wütend ich war. »Ich bin zu seiner Garderobe gegangen und er hat mich zum Abendessen eingeladen. Wir haben uns einfach verquatscht und nicht gemerkt, wie spät es war.«
»Nicht gemerkt, wie spät es war? Nach vier Stunden? Du hast vielleicht nicht gemerkt, wie spät es war, aber er wusste es ganz sicher.«
»Ich weiß nicht einmal, was du damit sagen willst.«
»Oh Carmen«, stöhnte sie auf und schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. »Es ist meine eigene Schuld, dass du so naiv bist.«
»Naiv?« Ich konnte meine Frustration nicht länger verbergen. Sie war so unglaublich vage und theatralisch.
Sie seufzte. »Es gibt Dinge in diesem Geschäft, vor denen ich dich beschützt habe, aber ich hätte dir beibringen müssen, vorsichtiger zu sein. Glaub es mir. Leute würden alles tun, um zu gewinnen. Du glaubst, dieser Junge mag dich, aber er ist ja nicht irgendein Junge. Er ist hier, weil er den Guarneri-Wettbewerb gewinnen will. Er ist nicht hier, um sich zu verlieben, obwohl er dir das wahrscheinlich ziemlich überzeugend vorgegaukelt hat.«
Ich blieb stumm und verzog keine Miene. Sie lag falsch. Natürlich lag sie falsch.
Aber während die eine Hälfte meines Gehirns es noch wiederholte, spulte die andere den Abend schon zurück und sah sich jede Begebenheit, jedes Wort und jede Geste im Rückwärtsgang an. Ich suchte nach Beweisen, wie lächerlich falsch, falsch, falsch sie lag. Aber ich fand keine.
»Die Entscheidung für den Guarneri wird eng«, fuhr Diana fort. »Einer von euch beiden wird gewinnen. Sei doch vernünftig, Carmen. Er wird alles versuchen, um dich aus dem Konzept zu bringen und nicht davor zurückschrecken, dein Herz zu brechen, wenn du am verletzlichsten bist.«
Nein! Der Funke der Wut entzündete sich zu einer Flamme. Ich war nicht dumm. Jeremy war nicht so.
»Ich sehe, dass du wütend bist und zwar mit Recht. Du hast es nicht verdient, dass man dich benutzt. Du bist jung und lieb und hübsch, aber deine Unschuld ist das Problem. Und jetzt, da du weißt, wie die Sache läuft, kannst du ja verhindern, dass er dich manipuliert.«
Ich legte eine Hand auf die Anrichte, um Halt zu suchen. Das Holz war glatt und kühl unter meiner Haut. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
»Hör mal, Carmen«, sagte Diana und brachte meine Aufmerksamkeit wieder zurück in den Raum. Sie stand jetzt vor mir und ich sah, dass ihre Augen gerötet waren. Sie umfasste mein Kinn mit beiden Händen. Ihre Haut war samtweich und ihr Parfüm duftete intensiv. »Vergiss Jeremy. Ruf ihn nicht an. Triff dich nicht mit ihm. Konzentriere dich auf Tschaikowsky. Wir sind so dicht dran zu gewinnen, Carmen. Du musst nur …« Sie ließ ihre Hände fallen. Sie wollte, dass ich ihren Gedanken zu Ende führen sollte, aber ich tat es nicht. Konnte es nicht.
Ich muss nur …
Ich nickte schwach. »Ich weiß. Ich verstehe.«
Sie wandte sich ab. »Gute Nacht.«
Ich ging wortlos nach oben.
Ich konnte einfach nicht einschlafen. Eigentlich hätte ich ständig über meinen ersten Kuss nachdenken sollen – wie weich sich Jeremys Lippen angefühlt hatten, wie seine Hand meinen Nacken berührt hatte, seine wasserblauen Augen –, aber
Weitere Kostenlose Bücher