Virus (German Edition)
einfache
Rechnung”, begann Tremmel.
Jetzt wollte er auch noch
Mathematik mit ihr üben. Sie hätte nicht herkommen sollen, es war reine
Zeitverschwendung.
Tremmel fuhr fort. „Ein Liter ist
ein Kubikdezimeter, also ein Würfel mit einer Kantenlänge von zehn Zentimetern.
Ein Liter Wasser wiegt in etwa ein Kilogramm. Natürlich ist das Gewicht auch
von der Temperatur und vom Salzgehalt des Wassers abhängig, aber wir machen
hier ja nur einen groben Überschlag. Da Salzwasser schwerer ist als Süßwasser,
können wir aber davon ausgehen, dass es mindestens ein Kilo pro Liter wiegt.
Die Wassersäule ist fünfundzwanzig Meter hoch. Das sind zweihundertfünfzig mal
zehn Zentimeter. In einer Tiefe von fünfundzwanzig Metern lastet also auf einer
Fläche von zehn mal zehn Zentimetern ein Gewicht von zweihundertfünfzig
Kilogramm.”
Tremmel machte eine dramatische
Pause und rückte seine Brille zurecht. „Haben Sie mal versucht, sich ein
Gewicht von zweihundertfünfzig Kilo mit einer Fläche von nur einem
Quadratdezimeter auf die Brust zu stellen?” fragte er dann.
„Nein”, antwortete Herforth
wahrheitsgetreu. Sie war sich allerdings relativ sicher, dass neunundneunzig
Prozent aller Menschen die gleiche Antwort gegeben hätten. Worauf wollte dieser
Selbstdarsteller hinaus? „Ich verstehe allerdings nicht ganz, wieso der
Wasserdruck das Durchtauchen der Leiche unmöglich macht.”
„Das Blut in der Lunge, liebe
Frau Herforth, das Blut in der Lunge”, erwiderte Tremmel. „Sie müssen bedenken,
dass eine Leiche dem Druck keine Muskelkraft mehr entgegenzusetzen hat. Der
komplette Brustkorb wäre unter diesem enormen Druck kollabiert und das Blut
wäre aus der Lunge gepresst worden.”
Soviel also zu dieser Theorie.
Und wieder war eine gute halbe Stunde wertvoller Ermittlungszeit völlig
ergebnislos verstrichen. Desillusioniert erhob sich Herforth.
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen
nicht weiterhelfen konnte, Frau Herforth.” Tremmels Tonfall klang
entschuldigend. War ja nicht seine Schuld, dass ihre Theorie hakte.
„Aber Sie hätten sich auch gar
nicht die Mühe machen müssen, hierher zu kommen”, fügte Tremmel an. „Ich stehe
doch in ständigem Kontakt mit Ihrem externen Berater. Ein sehr kompetenter
Mann, wie mir scheint.”
Externer Berater?
„Was für ein externer Berater?”
fragte Herforth. „Ich weiß nichts von einem externen Berater.”
48.
Dora saß an der Theke im ‚Dorfkrug’
und nippte an einer Fanta. Noch immer hatte sie sich nicht völlig von dem
Schock beim Betreten der Kneipe beruhigt, doch das war bei Weitem nicht ihr
einziges Problem. Ein weiteres saß direkt neben ihr und befand sich inzwischen
in einem angetrunkenen Zustand.
Was hatte Passe nur so werden
lassen? Was hatte sie falsch gemacht? Als sie ihn kennengelernt hatte, war er
in keinster Weise politisch interessiert gewesen. Es hatte sie nicht gestört, er
hatte andere Vorzüge gehabt. Er war charmant gewesen, witzig und aufgeweckt. Er
hatte sich für ihre Kultur interessiert, für ihre Familie, und sogar begonnen,
Italienisch zu lernen. Und natürlich sah er auch gut aus, wenn er nicht gerade
ein blaues Auge hatte. Sie hatte sich in Windeseile in ihn verliebt, und da saß
sie nun, mit Liebe im Herzen, Sorge auf der Seele und Verachtung in den
Gedanken.
Natürlich sagte ihr ihre
Vernunft, dass eine Beziehung mit Passe keine Zukunft haben konnte, wenn er
sich nicht änderte. Aber wieso konnte er sich denn nicht einfach ändern? Er
müsste ja keinen Charakter annehmen, der ihm völlig fremd war, sondern einfach
nur zu demjenigen zurückkehren, der einst der seine gewesen war, sogar noch vor
Kurzem, noch vor weniger als einem Jahr.
Sein Interesse für alles, was sie
betraf, hatte schnell auch zu einem Interesse für ihr politisches Engagement
geführt. Sie hatte ihn auf Demonstrationen mitgenommen und er hatte schnell die
Haltung der neuen Linken adaptiert. Dora erinnerte sich daran, wie glücklich
sie damals gewesen war. Nicht nur hatte sie den perfekten Mann gefunden, nein,
plötzlich hatte der perfekte Mann auch noch ihre Interessen geteilt.
Wahrscheinlich war es einfach zu schön gewesen, um wahr zu sein. Die
Seifenblase hatte platzen müssen.
Der Alptraum ihres Lebens, so
hatte sie damals den Eindruck gehabt, könnte vielleicht vorbei sein. Sie hatte
gehofft, vielleicht wieder schlafen zu können, ohne jeden Morgen beim Aufwachen
die schrecklichen Bilder vor Augen zu haben. Sie hatte gehofft,
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