Virus (German Edition)

Blick.
Holger stand mit zwei Tassen Kaffee in der Hand vor ihr, von denen er ihr eine
reichte. Dann steckte er sich eine Zigarette an.
    „Es ist leider nicht die Zeit,
dem Müßiggang zu frönen”, sagte er voll Tatendrang in seiner Stimme. „Wenn das
Morden gestoppt und der Mörder gestellt ist, wird die Zeit zum Ruhen sein.”
    Debbie war noch zu verschlafen,
um gleich sämtliche Implikationen seines Geschwafels zu erfassen. Inhaltlich
hatte sie keine Probleme, so retardiert war sie selbst im Tiefschlaf nicht.
Nein, es ging ihr nicht darum, was Holger gesagt hatte, sondern wie er es gesagt hatte.
    Nachdem er in der letzten Nacht
voll Trauer nur wenig und kaum elaboriert gesprochen hatte, war er nun wieder
in seine hochtrabende Diktion zurückverfallen. Bedeutete das auch, dass er sich
wieder in seine Festung aus Gleichgültigkeit verkrochen hatte? Doch etwas hatte
sich gegenüber dem Vortag verändert, und schließlich fiel ihr ein, was. Er
leierte nicht mehr. Sein Reden klang nicht mehr überheblich, sondern verspielt;
Lebensfreude und Tatendrang hatten sich zwischen die Zeilen gedrängt.
    Sie nahm einen Schluck von ihrem
Kaffee, während Holger sich zu ihr auf das Bett setzte. Konnte er seine Trauer
so schnell verarbeitet haben? Was trieb ihn an? Hoffentlich war es nicht eine
neue Fassade, hinter der er sich versteckte. Immerhin lief weiterhin ein
kranker Mörder frei herum, der unter anderem Debbie nach dem Leben trachtete.
    „Wieso bist du so agil am frühen
Morgen?” fragte sie. Der Kaffee tat gut und ihre Stimme klang nun menschlicher.
    „Ich konnte letzte Nacht nicht
sofort einschlafen”, erwiderte Holger fröhlich. „Also habe ich die Zeit
genutzt, um weiter über Trébors Tattoo nachzudenken.”
    „Und du hast es gelöst?” freudige
Aufregung machte sich in Debbie breit.
    „Ich denke. Es handelt sich um
eine Art Rätsel, eine Aufgabe. Die Frage lautet: Was geht im Kreise
durch die Nacht und wird vom Feuer verschlungen?”
    „Und die Antwort?” Die Spannung
in Debbie wuchs.
    „Was mich am meisten irritierte”,
fuhr Holger mit Elan in der Stimme fort, „war das Verb ‚gehen’. Wer geht schon
in Kreisen? Doch dann fiel mir ein, dass das lateinische Verb ‚ire’ nicht
notgedrungen diese Bedeutung tragen muss. Es ist mehr ein generelles Verb der
Fortbewegung, das in aller Regel mit ‚gehen’ übersetzt wird.”
    „Sag mir einfach die Lösung,
okay?” Debbie konnte es kaum noch ertragen.
    „In diesem Fall dürfte die
Bedeutung ‚fliegen’ wohl eher die vom Verfasser beabsichtigte sein”, erwiderte
Holger. „Im Kreise fliegen wir durch die Nacht und werden vom Feuer
verschlungen.”
    Er blickte sie erwartungsfroh an,
doch noch immer konnte sie sich keinen Reim darauf machen. Gerade wollte sie
ihn genervt anfahren, endlich mit seinen Spielchen aufzuhören und ihr einfach
die Lösung zu nennen, als die Antwort sie traf wie ein Blitz. Was fliegt in Kreisen
durch die Nacht und ins Feuer?
    „Mücken!” rief sie aus. Holger
strahlte sie zum Zeichen, dass dies auch seine Lösung war, an. Doch ebenso
schnell, wie sie gekommen war, wich die Aufregung aus Debbies Gesicht.
    „Aber es ergibt keinen Sinn”,
sagte sie ernüchtert.
    „Aber und wie. Eine ganze Menge
sogar”, erwiderte Holger und nahm einen langen Zug von seiner Zigarette.
Offenbar hatte er Spaß daran, sich alles einzeln aus der Nase ziehen zu lassen.
    „Nenn ihn mir.” Debbie blickte
Holger mit ernster Miene an. „Keine Spielchen, kein Rätselraten – nenn mir
einfach den Sinn, den du darin siehst. Ich hatte drei Stunden Schlaf, god damn
it.”
    „Okay, kein Thema”, Holger klang
in keinster Weise beleidigt. „Ich glaube, es handelt sich um eine Allegorie auf
den Mörder. Mücken verbreiten Krankheiten, teilweise sogar den Tod, wenn sie etwa
Malaria oder den Westnil-Virus übertragen. Ebenso der Mörder, denn er
verbreitet SARS und den Tod. Ich folgere also, dass der Mörder vermittels der
Tätowierung sich selbst beschreibt.”
    „Macht Sinn”, warf Debbie ein.
    „Ich glaube, dass der Satz eine
Ankündigung ist”, fuhr Holger fort. „Ein Ausblick auf die Zukunft. Wie die
Prophezeiungen in der Offenbarung des Johannes.”
    Holger drückte seine Zigarette
aus.
    „Und was kündigt der Mörder an?”
    „Erstens – und das ist der Grund
für meine gute Laune heute Morgen – kündigt der Mörder an, dass er gedenkt, im
Kreise zu gehen. Angefangen hat der Kreis bei Professor Meng Hong. Schließen
würde er sich