Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Virus (German Edition)

Virus (German Edition)

Titel: Virus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristian Isringhaus
Vom Netzwerk:
auch viele Freunde gefunden.
    Wie immer gäbe es auch bei diesem
Gipfel Vieles zu bereden. Immerhin galt es nicht nur, auf die Straße zu gehen.
Proteste überschritten irgendwann ihren Zenit und verloren mit der Zeit sowohl
Mitstreiter wie auch Aufmerksamkeit. Ebenso wichtig wie das Demonstrieren
selber war es für die Bewegung dementsprechend, den Mitstreitern auch über die
eigentlichen Proteste hinaus die Möglichkeit zu Engagement zu geben.
Nachhaltiges Demonstrieren nannte man so etwas und nirgendwo bot sich eine bessere
Gelegenheit, es zu propagieren, als hier.
    Doch Dora war nicht nach
Gesellschaft zumute. Vor weniger als fünf Stunden hatte sie ihren Freund bei
der Polizei verpfiffen, vor weniger als drei Stunden hatten sie ihn verhaftet.
Wie hätte sie in dieser Situation ihre Gedanken darauf konzentrieren sollen,
jungen Mitstreitern weitergehendes Engagement in der linken Szene schmackhaft
zu machen?
    Und so saß sie alleine vor der
‚Kleinen Taverne’, der zweiten Kneipe des Dorfes, auf dem Marktplatz von
Petersdamm und schlürfte eine Apfelschorle. Wo sollte sie nun hin? Was sie
brauchte, war ein Neubeginn. Ein völliger Neubeginn. Aber dafür musste sie
vorher noch etwas erledigen.
    Angewidert starrte sie zum
‚Dorfkrug’ hinüber, zur Ansammlung der Linksradikalen, wo Alkohol, Propaganda
und Dummheit blinden Hass schürten. Dora war sich nicht sicher, ob diese Leute
wirklich den Neoliberalismus oder einfach nur die Polizei hassten.
Wahrscheinlich wussten viele von ihnen nicht einmal, was Neoliberalismus und
Neokolonialismus waren. Sie kamen zu G8-Gipfeln, um Krawalle zu machen und den
Polizeistaat anzuprangern, ohne dabei auch nur im Geringsten die Werte der
Linken zu kennen. Während des Gipfels schnappten sie Propaganda auf, genau wie
Passe es im Internet getan hatte, und verfielen ihr. Alles Punks.
    Gedankenverloren und mit
unfokussiertem Blick bemerkte Dora die Gestalt, die quer über den Marktplatz
vom ‚Dorfkrug’ auf sie zukam, erst, als sie fast vor ihr stand.
    „Darf ich mich setzen?” fragte
Mark Wolf und nahm Dora gegenüber Platz, ohne ihre Antwort abzuwarten.
    Eine Weile saßen die beiden sich
gegenüber, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Dora hatte ihre Augen weiter
auf den Platz gerichtet, diesen schönen Platz aus altem Kopfsteinpflaster, der
in der Maisonne blutrot zu leuchten schien, und sie hoffte, dass Mark ihre
generell abweisende Haltung als Zeichen verstehen würde.
    Er verstand sie nicht als
solches, sondern blieb einfach sitzen, wie als wolle er mit Dora gemeinsam für
sich sein, wie als sei dies die Ecke für die, die alleine sein wollten und dazu
Gesellschaft brauchten. Etwas schien auch ihn zu beschäftigen.
    Dora blickte ihn an und
Verwunderung überkam sie, als sie anstelle von Hass und Aggression Traurigkeit
und Resignation erkannte.
    Und plötzlich verstand sie. Sie verstand,
doch Verständnis kam nicht in ihr auf. Ganz im Gegenteil keimten Wut und
Aggression nun in ihr.
    „Kannst du überhaupt noch in den
Spiegel gucken?” fragte sie mit offener Feindseligkeit in der Stimme.
    Überrascht sah Mark auf und Dora
an. Eine ganze Weile lang taxierte er sie, doch sie hielt seinem Blick stand. Es
fiel ihr nicht schwer, in seinen Augen zu lesen, welche Frage ihm durch den
Kopf ging. Hatte sie ihn verstanden? Ja, sie hatte ihn verstanden.
    Schließlich schien auch Mark zu
ebendiesem Ergebnis zu gelangen, denn die Überraschung in seinem Gesicht wich
erneut trauriger Resignation.
    „Nein”, antwortete er und etwas
in seiner Stimme ließ Dora ihre Feindseligkeit bereuen. „Aber ich habe keine
Wahl.”
    Erneut folgte eine lange Weile
des Schweigens. Wieder waren sie gemeinsam alleine, jeder für sich und doch
gemeinsam. Abermals starrte Dora mit leerem Blick über den Marktplatz.
    „Kannst du denn wieder in den
Spiegel gucken?” hörte sie plötzlich Mark mit leiser Stimme fragen.
    Diesmal war es an Dora, überrascht
zu sein. Sie sah Mark an und stellte sich dabei die gleiche Frage, die sie
zuvor in seinen Augen abgelesen hatte: Kannte er ihr Geheimnis? Ausgeschlossen.
Konnte er es ahnen? Eigentlich fast ebenso ausgeschlossen. Eigentlich fast. War
es nicht offenbar, dass er etwas ahnte?
    „Ich werde nie wieder in den
Spiegel gucken können”, sagte sie mit leiser Stimme und der entfernten,
minimalen Hoffnung, damit falsch zu liegen.

89.
    Es war offiziell. Zwischen der
Rostocker Kriminalpolizei und dem Bundeskriminalamt herrschte Krieg. Milla
Herforth konnte nur

Weitere Kostenlose Bücher