Virus (German Edition)
Die
Morde generieren ein immenses Medieninteresse, doch ihre Aussage ist bislang
nur uns bekannt und wir werden ihm natürlich nicht den Gefallen tun, sie
öffentlich zu machen. Also muss er selbst dafür Sorge tragen.”
„Und wie wird er das tun?”
„Er hat alles perfekt geplant.
Ich muss ihm hierfür durchaus Respekt zollen”, erwiderte Holger. „Er wusste,
dass er für die Veröffentlichung des Fotos verhaftet werden würde. Im Verhör
hat er dann wahrscheinlich dafür gesorgt, dass man ihn nicht sofort wieder
entlässt. Er wusste, dass eine Verhaftung im Zuge der Einschränkung der
Pressefreiheit einen Aufruhr unter Medienvertretern und Reportergewerkschaften
verursachen würde. Auch ahnte er, dass er für seine Kollegen zum Helden werden
würde, und man ihm eine Pressekonferenz gewähren würde. Heute Nachmittag um
vier wird er eine solche geben, das habe ich auf der Fahrt im Radio gehört, und
dort wird er der ganzen Welt erzählen, dass sie untergehen wird, wenn sie sich
nicht zu einem Leben in Christlichkeit entschließt.”
„Aber Somniak ist Journalist und
kein Virologe”, warf Driver ein.
„Wissen wir das?” fragte Holger.
„Was meinen Sie damit?”
„Wenn meine Theorie zutrifft, hat
Somniak einen falschen Namen und demnach eine falsche Identität. Wie also
können wir wissen, ob seine wahre Identität nicht die eines Virologen ist?”
Nach und nach schwand die Falte
von Drivers Stirn, und sein Gesichtsausdruck wurde weniger zweifelnd. Er begann,
langsam und nachdenklich mit dem Kopf zu nicken. Dann wurde sein Nicken
schneller und schneller und schließlich erhob er sich.
„Okay, ich brauche ein Team für
eine Personenüberprüfung”, rief er in den Raum.
87.
Hagen wischte sich den Schweiß
von der Stirn. Er kam aus dem Bierzapfen gar nicht mehr heraus. Der ‚Dorfkrug’
hatte inzwischen absoluten Kultstatus erreicht. Bereits jetzt, um halb zwei,
war er gerappelt voll. Hagen hatte weitere Zeltgarnituren für die
Außenbewirtung organisiert, doch trotz der gesteigerten Kapazität gab es nicht
einen einzigen verbleibenden freien Sitzplatz. Viele Gäste standen einfach
herum, während sie ihr Pils in der Maisonne genossen. Auch der Innenbereich war
erneut zum Bersten gefüllt. Hagen hatte zwei weitere Hilfen eingestellt, doch
nichtsdestotrotz kamen sie mit dem Bedienen der Gäste kaum nach.
Eine Hundertschaft von Polizisten
in Kampfmontur stand auf dem Markplatz bereit, um sicherzustellen, dass die
alkoholisierten Globalisierungsgegner nicht randalierten. Die Polizeieinheit
trat friedlich und unprovokativ auf, doch Hagen war dennoch stolz auf die
Tatsache, dass seine Kneipe für ihr Erscheinen verantwortlich zeichnete. Eine
ganze Hundertschaft nur für den ‚Dorfkrug’! Wer hätte das vor drei Tagen
gedacht?
Mund-zu-Mund-Propaganda unter den
Autonomen hatte dafür gesorgt, dass sich die Zahl der Besucher gegenüber dem
Vorabend noch einmal signifikant gesteigert hatte. Die Masse an Gästen und der
damit verbundene Umsatz freuten ihn natürlich, doch leider war das temporär und
würde in zwei Tagen vorüber sein.
Wirklich verantwortlich für seine
nahezu euphorische Stimmung war etwas völlig anderes. Es war die Aussicht
darauf, dass die populäre Boulevard-Reporterin Tanja Franke einen Bericht über
seine Kneipe drehen würde. Am späten Vormittag hatte ihr Sender telefonisch bei
Hagen angefragt, ob man eine Reportage über die Kultkneipe des
G8-Gipfels drehen dürfe. Selbstverständlich hatte Hagen ohne zu zögern
zugestimmt. Diese Reportage war seine Chance, sie würde seine Rente sichern.
Sie würde seiner Kneipe bundesweit Berühmtheit verleihen und somit dafür Sorge
tragen, dass auch nach dem Gipfel die Gäste nicht ausblieben.
Hagen hatte es geschafft. Er
hatte seine Kneipe gerettet.
88.
Dora war alleine. Doch inzwischen
hatte sie sich daran gewöhnt, denn alleine war sie seit fast zwei Jahren.
Gewiss hatte ihre Beziehung mit Passe anderthalb Jahre lang gut funktioniert,
doch auch sie hatte nie etwas daran ändern können, dass Dora mit ihrem
Geheimnis alleine war, mit ihren Erinnerungen, mit ihren Alpträumen.
Und nun war sie nicht mehr nur in
Gedanken isoliert vom Rest der Menschheit, sondern auch räumlich. Passe war
verhaftet worden, und außer ihm kannte sie niemanden unter den übrigen
Demonstranten. Früher war sie offen auf Leute zugegangen und besonders bei
Großereignissen wie diesem hatte sie regelmäßig mit unzähligen Gleichgesinnten
diskutiert und dabei
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