Virus (German Edition)
aufmerksam
zugehört hatte.
„Sie werden
festgestellt haben”, sagte sie dann, „dass ich in meiner Zusammenfassung der
Berichte einen relativ inflationären Gebrauch von Worten wie ‚unmöglich’ und
‚ausschließen’ gemacht habe. Sprich: Wir haben es mit Phänomenen zu tun, die
auf den ersten Blick nicht mit den uns bekannten Gesetzmäßigkeiten der
Naturwissenschaften zu erklären sind. Der Bericht von Kommissar Wegmann unterstützt
diesen Eindruck.”
Hauptkommissar
Wegmann, du Kuh! dachte Wegmann.
„Auch das Blut in der
Lunge von Frau Dickinson erscheint uns zunächst unerklärlich. Deshalb habe ich
Frau Lemairre eingeladen, unserem Meeting beizuwohnen. Frau Lemairre”, Herforth
wandte sich an die Rothaarige, „vielleicht können Sie uns ein wenig über ihr
Betätigungsfeld im Allgemeinen und ihre Eindrücke zu diesem konkreten Fall im
Speziellen erzählen?”
Die Rothaarige leerte
ihren Kaffee und räusperte sich. Wegmann stellte fest, wie sehr ihre Hand dabei
zitterte und vermutete, sie müsse eine starke Raucherin sein. Ihre Stimme, als
sie zu berichten begann, unterstützte seine These – ein kratziger Bass, für den
Joe Cocker sie beneiden würde. „Also, wie Frau Herforth schon gesagt hat,
beschäftige ich mich beim Bundesnachrichtendienst mit paranormalen Phänomenen.
Mein Arbeitgeber ist der BND, ich stehe aber dem BKA ebenso zur Verfügung und
ehrlich gesagt gebt ihr mir mehr zu tun als mein Brötchengeber.” Damit lächelte
sie Herforth kurz und warm zu, sie schien ein freundliches Gemüt zu haben.
Herforth quittierte die Geste mit einem Kopfnicken. Lächeln konnte sie
wahrscheinlich gar nicht.
Dann fuhr Lemairre
fort. „Phänomene, die sich mit den allgemeinen Gesetzen der Wissenschaften oder
der Logik nicht erklären lassen, werden als paranormal eingestuft und an uns
weitergeleitet. Das Einzige allerdings, was uns im Prinzip von anderen
Abteilungen unterscheidet, ist, dass wir Übersinnliches nicht ausschließen. Wir
beziehen in unsere Überlegungen die Möglichkeit mit ein, dass Außerirdische,
die Geister Verstorbener, die Macht Gottes oder uns nicht bekannte Kreaturen
mit uns ebenso wenig bekannten Kräften für die Phänomene verantwortlich sein
könnten. Das heißt, wir schließen nichts aus. Trotzdem ist es stets unser
erstes Anliegen, mit den Naturgesetzen vereinbare Erklärungen zu finden. In
neunzig Prozent aller Fälle ist uns dies bislang gelungen. In den übrigen zehn
Prozent haben wir zwar bislang noch keine rationale Erklärung gefunden, jedoch
auch nichts Übernatürliches nachweisen können.”
„Aha”, sagte
Herforth. „Ich denke, das hilft uns, Ihr Betätigungsfeld zu überblicken.
Spannen Sie uns nicht länger auf die Folter. Was ist Ihre Einschätzung zu
unserem Fall?”
Nachdenklich goss
sich Lemairre einen neuen Kaffee ein, bevor sie antwortete. Wegmann konnte die
Spannung kaum ertragen. Jetzt würde die Expertin bestätigen, was er schon seit
einer Stunde wusste.
„Ich denke”, hob
Lemairre an, „dass es viel zu früh ist, hier von paranormalen Phänomenen
auszugehen. Die Tatsache alleine, dass es bisher unmöglich erscheint, Erklärungen
zu finden, bedeutet nicht, dass es keine gibt.”
Was? Was redete
die Geisterfrau da für einen Unsinn? Natürlich handelte es sich um
Paranormales. Wegmann war wie vor den Kopf gestoßen. Er blickte zu Herforth
hinüber. Die müsste doch einschreiten, ihre Unzufriedenheit über diese Aussage kundtun.
Doch Herforth nickte nur gedankenverloren.
„Ihr Blick sagt mir,
dass Sie eine andere Antwort erwartet hätten”, wandte sich Lemairre jetzt
direkt an Wegmann.
„Nun ja, es ist doch
recht offensichtlich, dass wir es hier mit Unerklärlichem zu tun haben”,
antwortete dieser. Nun war es also raus. Jetzt wusste Herforth, was er dachte.
Auch egal.
„Können Sie mir die
Relativitätstheorie erklären, Herr Wegmann?” fragte Lemairre mit freundlicher
Stimme.
„Natürlich nicht.”
„Sehen Sie, aber nur,
weil Sie keine Erklärung dafür haben, muss das nicht heißen, dass es keine gibt.
Mir persönlich, wenn ich so offen sein darf, erscheint die Relativitätstheorie
unerklärlicher als die Ereignisse der letzten Tage. Aber sie ist nun mal
erklärbar. Einstein hat es gezeigt.”
Damit nahm sie einen
großen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.
„Ein anderes gerne
angestrengtes Beispiel”, fuhr Lemairre fort, „ist das sogenannte
Hummel-Paradoxon. In den Dreißigerjahren wies ein Aerodynamiker aufgrund
Weitere Kostenlose Bücher