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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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sie blickte sich um, der Dicke war weg, ein Neuer schob sie aus dem Zimmer, einen Flur entlang, in eine Halle.
    Holzdielen, blank poliert. Treppe mit geschnitztem Geländer. Keine zehn Meter entfernt die Eingangstür und daneben ein Fenster, durch das man eine weite Wasserfläche glitzern sah. So nah, so schön. Unerreichbar. Der Mann zog sie zur Treppe, sie stieg neben ihm hinauf, langsam, mit zitternden Knien, nach fünf Stufen außer Atem.
    Oben ließ der Mann ihren Arm los und deutete mit dem Zeigefinger mehrmals nach unten. Hier warten, hieß das vermutlich. Vielleicht. Nur wenige Schritte entfernt stand eine Holztruhe. Sie ging hinüber und setzte sich.
    Ihr war schlecht. Alles tat weh. Das Kleinkind in ihr hatte sich auf leises Wimmern verlegt: Mein Kopf, mein Magen, sieh nur meine Hände – der Verband ist ganz nass, und das von dem Dreckwasser – mir ist kalt, meine Füße sind nass … Wäre ich doch nie hergekommen.
    An diesen Ort bist du auch nicht freiwillig gekommen.
    Neben ihr war ein Fenster, sie sah hinaus. Hohe Kiefern. Ein asphaltierter Platz. Wasser. Ein Steg, an dem zwei Motorboote lagen, eine Yacht und eins in Ruderbootgröße: Mit dem waren sie vermutlich hergefahren. Weit draußen zog ein Segelboot vorbei. Dahinter kam wieder Land: ein See also oder ein breiter Fluss. Nirgendwo Häuser. Wie lange waren sie mit dem Boot unterwegs gewesen? Wie schnell fuhr so ein Boot? Sie gab es auf. Sie konnten überall sein.
    Die Sonne schien durchs Fenster herein. Sie wärmte ihr die Schulter. Auf dem Fensterbrett lagen ein paar Muschelschalen. Sie stellte sich Eglund beim Strandspaziergang vor. Warum nicht? Mit einer Frau an seiner Seite, dreißig Jahre jünger als er. Hinter ihm zwei Leibwächter. Die Waffen einsatzbereit. Was hatte Lee ihr geschrieben? Für solche Leute gibt es keinen Bereich im Leben, der nicht irgendwie auch mit ihren Geschäften zu tun hat. Wie recht du hast, Lee. Ich würde dir das wirklich gern noch sagen.
    Ihre linke Gesichtshälfte pochte. Das linke Auge tränte und tränte. Im Mund hatte sie den Geschmack von Erbrochenem, ihr Hals war immer noch wund, wie verätzt. Ihre Handgelenke brannten, als hätte jemand sie mit glühendem Draht umwickelt.
    Aber sie lebte. Vermutlich musste man das als Erfolg werten.
    Eglund kam die Treppe herauf, mit jedem Schritt nahm er zwei Stufen. Als er sie auf der Truhe sitzen sah, hielt er inne, einen Moment lang schien er etwas sagen zu wollen, dann wandte er sich mit einem Ruck ab und verschwand im Gang. Eine Tür klappte. Minuten später noch einmal.
    Er kam zurück.
    Einen Wäschestapel auf dem Arm.
    Sie starrte ihn an. Er zeigte mit dem Kopf zur Treppe und lief vor ihr ins nächste Stockwerk hinauf. Als sie im Dachgeschoss ankam, wartete er neben einer geöffneten Tür.
    Ein Badezimmer. Sie blieb im Flur stehen und schaute hinein: Es hatte ein Fenster. In die Dachschräge eingelassen, so dass man vermutlich nur Himmel sah, aber ein Fenster. Auf dem Klodeckel lagen Kleidungsstücke und Handtücher. Obenauf eine Zahnbürste, noch in der Verpackung. Fläschchen und Tuben. Pflaster.
    »Die Sachen werden dir nicht passen, aber sie sind besser als deine. Das Spray desinfiziert, die Salbe hilft gegen die Schwellung.«
    Oh, wie fürsorglich. Er erwartete hoffentlich nicht, dass sie sich bedankte.
    Als sie an ihm vorbeigehen wollte, streckte er den Arm aus und blockierte die Tür.
    »Hör zu, kleines Mädchen. Dieses Haus – das ganze Grundstück – ist voll mit meinen Leuten. Ohne meine Erlaubnis kommst du hier nicht weg. Hörst du mir zu? Also sei klug und versuch es gar nicht. Denn wenn du es versuchst – wenn du überhaupt irgendetwas tust, worum dich niemand gebeten hat –, werde ich wissen, dass Juri recht hat.«
    »Womit denn recht?«
    »Juri ist der junge Mann, dem du auf die schönen neuen Schuhe gekotzt hast. Helles Wildleder. Er kann sie wegwerfen. Juri findet das gar nicht komisch.« Er sagte es lässig, als würde er einen Witz erzählen – und sah dann zu, wie sich die Angst in ihr ausbreitete.
    Juri, wie er zuschlug. Wie er mit der Pistole auf ihr Auge zielte. Wie er den Lauf in ihre Brust drückte und sie dachte: Jetzt schießt er. Nur weil es Spaß macht.
    Sie räusperte sich. »Womit soll er recht haben?«
    »Er glaubt, dass du ein Spitzel bist.«
    Sie schüttelte sofort den Kopf, aber er hatte das Erschrecken schon bemerkt, natürlich hatte er es bemerkt, und er fuhr noch etwas leiser fort: »Ich habe ihm versprochen, dass er

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