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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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dich persönlich entsorgen darf, wenn es stimmt.« Er ließ den Arm sinken und gab den Weg ins Bad frei. »Gib ihm keinen Grund, sich mit dir zu befassen, während ich nicht im Haus bin.«
    Abendlicht auf den Kiefern. Die Sonnenstrahlen schafften es nicht ganz bis ins Zimmer, aber sie verliehen dem Dunkelgrün der Nadeln Wärme und brachten die Zapfen zum Glühen. Jeden einzelnen. Als hätte jemand durchgezählt. Als gäbe es wirklich einen Gott, der von jedem Spatzen wusste, wann er eine seiner Federn verlor.
    Oder wie immer dieser Spruch genau hieß. Eine Nachwirkung der Angst vermutlich, dass sie plötzlich an Götter dachte. Der Wunsch, jemandem zu danken. Jemand anderem als dem König der Schläger dort unten.
    Sie hatte geduscht, sich die Haare gewaschen, die Sachen angezogen, die Eglund ihr gebracht hatte: eine schwarze Samthose, die zu lang war, und einen weiten dunkelroten Pullover. Sie hatte sich zweimal die Zähne geputzt und den Mund ausgespült, den dreckigen Verband weggeworfen und die Schnittwunde, die aufgeplatzten Lippen, die wund geriebenen Handgelenke desinfiziert und mit Salbe bestrichen. Auf ihr Klopfen hin hatte ihr Aufpasser das Bad aufgeschlossen und sie zwei Türen weiter in dieses Zimmer gesperrt. Es war klein. Aber es hatte ebenfalls ein Fenster.
    Nackte Holzdielen, ein Sofa mit einer zusammengefalteten Decke. Eine Flasche Mineralwasser auf dem Tisch – inzwischen leer – und ein Teller mit Pommes frites und Chicken Nuggets. Bengt Eglund, der perfekte Gastgeber. Waffenhändler und Gentleman. Ihr Magen hatte genau drei Streifen Pommes frites akzeptiert, einzeln und langsam gekaut, danach hatte sie sich auf das Sofa gelegt, unter der Decke zusammengerollt, Kleinkind auf der Suche nach Wärme; und war wohl tatsächlich eingedöst, denn jetzt war es Abend.
    Im Haus war es still. Sie stand am weit geöffneten Dachfenster, der Harzgeruch der Kiefern wehte herein, der Geruch von sonnenwarmer Teerpappe, hin und wieder Möwengeschrei. Das Haus war offensichtlich aus Holz gebaut, groß und verwinkelt, das Werk irgendeines protzigen Reichen, mit einem achteckigen Turm, rundum verglast. Eglund hatte dort vermutlich ein Maschinengewehr stationiert. Zum Schutz von Riga Consulting . Ihr Zimmer lag auf der Rückseite, mit Blick auf Rasen, Kiefern und eine Art Pavillon mit Glaswänden, weit rechts und fast ganz von Bäumen verdeckt. Keine Mauer in Sicht und kein Zaun. Vermutlich war das Grundstück so groß wie ein Flugplatz und wurde von bewaffneten Patrouillen und Kampfhunden bewacht.
    Sie hätte gern geraucht, aber die Taschen ihrer Jacke waren leer. Kein iPod. Sogar die Papiertaschentücher fehlten. Eine Zeitlang hatte sie versucht, mit Krümeln aus der Panierung der Chicken Nuggets Wolframs Regel 110 für zelluläre Automaten durchzuspielen; hatte versucht, den Gedankengang eines Artikels über probabilistische CA s zu rekonstruieren, den sie vor der Fahrt nach Sennewitz gelesen hatte – Sennewitz! Wie lange war das her? Nichts half. Ihre Finger waren steif. Vom Fettgeruch wurde ihr übel. Ihre Gedanken sprangen immer wieder zu den gleichen Fragen zurück, wie von Gummibändern gezogen.
    Was hat er gefragt. Was hast du gesagt. Was hättest du stattdessen antworten sollen.
    Wie konnte aus dem Mann im Waldhaus, von dem Adrian erzählt hatte, dieser Mann dort unten werden.
    Unwichtig. Bei einem System, von dem man nur zwei Zustände kannte, die so weit auseinanderlagen, war es sinnlos, nach Übergangsregeln zu suchen. Besser, man behandelte den Wechsel wie einen Neustart.
    Besser, man konzentrierte sich aufs Überleben.
    Es klopfte. Es wurde aufgeschlossen. Der Aufpasser winkte sie heraus. Sofort war die Angst wieder da, eine andere Angst als in Århus, körperlicher und direkter. Als stiege man in kaltes Wasser, während man die Treppe hinabging, so dass die Bewegungen langsamer wurden, die Empfindungen dumpf, immer stärker überlagert von Kälte; die Gedanken brüchig; das innere Schreien immer höher und dünner, bis man es nicht mehr hörte, sondern nur noch als Vibration spürte, als ein Zittern in jedem Winkel des Körpers.
    Durch die Halle. Durch den Seitengang. In Eglunds Arbeitszimmer.
    Er saß hinter seinem Schreibtisch und rauchte Zigarillo, vor sich eine Aktenmappe, die er zuschlug, als sie hereinkam. Wie irgendein Büromensch. Er schaute sie an, einmal langsam von oben bis unten, und sie sah sich in seinem Blick wie in einem Spiegel.
    Ungekämmte Haare. Ein Pullover, in dem sie ertrank.

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