Visby: Roman (German Edition)
Fotos zu zeigen.
Sie band die Schnürsenkel. Stand auf und öffnete erneut die Tür. Der Flur war immer noch leer.
Sie ging leise zur Treppe, blieb vor der ersten Stufe stehen und beugte sich über das Geländer.
Alles still. Niemand zu sehen.
Noch war nichts passiert. Noch hatte sie nichts unternommen, was sich nicht erklären ließe. Ich habe ein Geräusch gehört. Ich musste aufs Klo.
Sie setzte den Fuß auf die oberste Stufe, verlagerte vorsichtig das Gewicht. Sehr leises Knarren. Die nächste Stufe. Die nächste. Siebzehn Stufen bis zum ersten Stock, und auch hier war alles still, und nur die Treppenbeleuchtung brannte. Sie ging rasch weiter, bis zu dem Absatz auf halbem Weg zum Erdgeschoss.
Von hier konnte sie in die Halle blicken.
Leer. Still. Kein Licht außer von einer kleinen Lampe, die an einem Tisch links neben dem Fuß der Treppe befestigt war. Auf dem Tisch stand ein geöffnetes Notebook, auf der Tastatur lag ein Taschenbuch, aufgeschlagen, mit dem Einband nach oben. Sie stieg ganz hinunter, blieb stehen und lauschte. Nichts.
Wer hatte geklopft? Wer hatte aufgeschlossen?
Sie ging zur Haustür. Zumindest diese Tür musste doch abgeschlossen sein, niemand setzte Wachposten auf den Bootssteg, hielt sich bewaffnete Schläger und ließ den Eingang unverschlossen. Doch sie wusste es schon, bevor sie die Klinke berührte. Die Tür ließ sich öffnen, geräuschlos.
Sie zog sie einen haarfeinen Spalt weit auf. Licht sickerte herein, vermutlich von einer Lampe über dem Eingang. Sie wartete, lauschte, öffnete weiter und sah dunkle Flecken über die Vortreppe huschen: breite, diffuse Schatten, von Motten, die die Lampe umkreisten. Sie öffnete noch weiter und roch das Wasser. Etwas klickte ganz leise, unregelmäßig, Kiefernnadeln gegen ein Fenster vielleicht, Mottenflügel gegen den Glasschirm der Lampe …
Sie stand da, die Hand auf der Klinke.
Hinausgehen oder nicht hinausgehen.
Ohne Geld, ohne Ausweis wegzulaufen war unsinnig.
Ohne zu wissen, wo sie war.
Ohne ein einziges Mal mit Eglund über ihre Mutter geredet zu haben.
Sie drehte sich um.
Am anderen Ende der Halle stand Eglund.
Ihre Hand zuckte von der Klinke zurück, als wäre sie heiß. Er kam auf sie zu, Leinenhose und weit offenes Hemd, Strandschuhe, die auf dem Steinboden kein Geräusch machten. Er fasste an ihr vorbei und drückte die Tür zu.
»Wo willst du denn hin, Dhanavati?«
Obwohl er leise sprach, war die Wut deutlich zu hören. Er stand ganz nah vor ihr, sie roch Chlorwasser auf seiner Haut und sah Druckstellen von einer Schwimmbrille links und rechts von seiner Nase.
»Haben wir dir nicht erklärt, dass du nicht unbewacht herumlaufen sollst? Habe ich mich in dir getäuscht? Bist du doch eine kleine Spionin?«
»Nein!« Sie spürte die Wand im Rücken, viel zu nah. Ihr Herz schlug so hart, dass es in der Kehle weh tat. »Die Tür war offen. Diese hier, und die oben auch. Jemand hat geklopft, ich bin aufgewacht und hab nachgesehen, und es war nicht mehr abgeschlossen … «
»Jemand hat geklopft? Was redest du da?«
»Es ist wahr!«
Er sah sie an. Ihre Gesichter waren nur wenige Handbreit voneinander entfernt.
»Du hast geträumt.«
»Die Tür war offen! Also bin ich runtergegangen – ich wollte wissen, was los ist … «
»Und Michail?« Er deutete mit dem Kopf Richtung Treppe.
»Hier war niemand! Sonst wäre ich doch nie runtergekommen.«
Schweigen. Sie hörte sich atmen, viel zu schnell. Und dann wanderte sein Blick endlich von ihr weg, zur Haustür, er streckte die Hand aus und drückte die Klinke herunter, langsam, als wollte er prüfen, wie gut der Mechanismus funktionierte.
Die Tür öffnete sich. Er trat auf die Vortreppe hinaus.
Leiser Nachtwind. Direkt über Eglunds Kopf stand der Mond, ein blasser Halbkreis hinter dünnen Wolken.
Sie machte einen Schritt ins Freie. Sofort fuhr er herum und stieß sie vor sich her wieder nach drinnen.
»Was ist denn … «
»Psst.« Er nahm einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, schloss von innen ab und fasste sie am Ärmel. »Sei still und komm mit.«
»Aber … «
»Sei still!« Er zog sie zur Treppe. Sie stiegen hinauf, dicht nebeneinander, er bewegte sich schnell und leise.
Plötzlich blieb er stehen. Im nächsten Moment hörte sie es auch: Schritte, über ihnen.
Eglund ließ sie los und stieg eine Stufe höher, so dass er halb vor ihr stand. Die Schritte hielten inne. Im Dachgeschoss lehnte sich jemand über das Geländer.
Juri. Er hielt seine Pistole
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