Vision - das Zeichen der Liebenden
das abgehackte Keuchen des Ungeheuers und das metallische Rasseln, das es bei der geringsten Bewegung von sich gab.
»Denk nicht, ich würde dich nicht verstehen.« Arion seufzte. »Du bist noch nicht so weit. Immerhin weiß ich jetzt wenigstens, dass es dich gibt und dass du früher oder später zu Ende führen wirst, was ich begonnen habe. Aber nicht hier… Ich muss dich wieder nach draußen bringen.«
Alex versuchte, Arions Silhouette in der Dunkelheit zu erahnen. »Das kannst du?«, fragte er erstaunt. »Du weißt, wo der Ausgang ist? Aber was machst du dann hier? Warum bist du nicht längst geflüchtet?«
Es kam ihm so vor, als ginge der Atem des Ungeheuers auf einmal schneller.
»Ich hasse sie zu sehr. Meinen Hass würde ich immer mitnehmen, egal, wohin ich gehe. Dieses Labyrinth spiegelt meine Gedanken und Gefühle. Aranox hat all den Schatten in meinem Kopf eine Gestalt gegeben, als es mich besiegte, und dieses Gefängnis daraus gemacht. Um hinauszukommen, müsste ich meinen Hass überwinden.«
»Ich könnte dir dabei helfen.«
»Es würde nichts nützen. Aber es ist mir auch nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass du hier bist. Und du kannst sehr wohl hinaus. Mach nicht denselben Fehler wie ich, geh nicht deinen Gefühlen in die Falle. Sie sind unsere schlimmsten Feinde.«
Arion packte seine Hand. Wie schaffte dieses geschundene Wesen es, ihn zu sehen?
Die Piercings an Arions Fingern bohrten sich in Alex’ Handgelenk, als er nach vorn gezogen wurde. Blind und orientierungslos tappte er eine Weile durch die Finsternis, bis es ihm nach und nach gelang, sich dem Schritt seines Führers anzupassen, der langsam und sicher voranging.
Irgendwann zerteilte sich die Dunkelheit in große Fetzen. Alex seufzte erleichtert auf, als er in der Ferne einen bläulichen Widerschein wahrnahm. Das musste der Nachthimmel sein! Der Lichtschimmer vertrieb die Schatten, immer deutlicher tauchten die Gegenstände im Raum aus dem Dämmerlicht auf, bis das Licht schließlich auch den Wächter erreichte. Als Alex das mit Metallringen und -stäben gespickte Gesicht sah, zuckte er vor Schreck und Abscheu zurück. So etwas Abstoßendes hatte er noch nie gesehen. Aber Arion zeigte keinerlei Reaktion, unverdrossen zog er ihn weiter.
Sie gelangten in eine riesige Halle, die über und über mit den verschiedensten Dingen gefüllt war. Im Vorbeigehen erhaschte Alex rechts von sich einen Blick auf die verkohlten Überreste eines Indianerlagers, dahinter stand eine alte Kutsche mit roten Rädern und verschlissenen Samtbezügen. Unmittelbar daneben schien sich das Behandlungszimmer eines Psychiaters zu befinden: ein Schreibtisch mit einer grünen Lampe vor einer schwarzen Ledercouch an der Wand.
Filmkulissen. Die ganze Halle war voll davon. Es war, als besichtigten sie ein verlassenes Hollywood-Studio.
Doch still war es hier keineswegs. Auf Möbel und Wände wurden Filme projiziert, Hunderte gleichzeitig. Es herrschte ein unerträgliches Wirrwarr an Bildern und Geräuschen. Und mit jedem Schritt, den sie in die Halle hineinmachten, wuchs die Zahl der Projektionen an Decke und Wänden. Zugleich wurde die Geräuschkulisse immer verwirrender. Nach der bedrückenden Finsternis des Labyrinths taten die hellen bunten Bilder Alex’ Augen gut. Staunend glitt sein Blick von einem Film zum nächsten. Manche Szenen kannte er, andere nicht. Vom Winde verweht, ein Staffellauf auf einer Aschenbahn, eine johlende Menschenmenge bei einem Open-Air-Konzert, ein weißes, steriles Raumschiff mitten im Weltraum, tanzende Ureinwohner, der Auftritt eines Politikers, eine Verfolgungsjagd im Auto, die Börse, die großen blauen Augen einer Manga-Figur, die Schweißtropfen, die ihr über die Stirn liefen…
Erschöpft schloss er die Augen. Tausende von Stimmen bedrängten ihn, sangen, flehten und forderten in verschiedenen Sprachen. Es waren einfach zu viele Reize nach der grausamen Leere des Labyrinths.
Plötzlich wusste er, dass er gleich eine Vision haben würde. Millionen von zusammenhanglosen Bruchstücken formten sich vor seinem inneren Auge zu einem Bild. Noch ehe Alex nachvollziehen konnte, wie und warum, sah er sich selbst nackt auf einem weißen, ausladenden Stuhl mit einem verschlissenen grünen Brokatbezug sitzen. Alle Bilder und Stimmen um ihn herum begannen, sich von den Wänden zu lösen und geradewegs auf ihn zuzuströmen, als würden sie von ihm aufgesogen. Ein unbeschreiblicher Schmerz durchzuckte ihn, als sie sich in seine Haut fraßen.
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