Vision - das Zeichen der Liebenden
vorankam. Als würde er von einer unbekannten Kraft geschoben. So schnell war er noch nie gelaufen. Bei jedem Schritt schwebte er eine Weile in der Luft, so kam es ihm zumindest vor.
Es saugt mich an, schoss es ihm durch den Kopf. Dieses Ding saugt mich an. Wenn ich nicht aufpasse, wird es mich verschlingen .
Verzweifelt versuchte er, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren, kniff die Augen zusammen in einem neuen Versuch, die Dunkelheit zu durchdringen, und wirklich – da war etwas: ein Gesicht, das fahle, traurige Gesicht eines jungen Mannes mit einem dunkelblauen Barett auf dem Kopf. Die Vision dauerte nur Sekundenbruchteile, ein entsetzliches Gefühl von Leere blieb in ihm zurück. Dieses Gesicht hatte irgendetwas mit der Kraft zu tun, die an ihm zog, sie waren eins, das Herz dieser finsteren Grube, die mit der Zeit ihre ganze Umgebung verschlang.
Jeder seiner Atemzüge brannte inzwischen trocken und heiß, als ob er durch ein Feuer lief. Wenn er in dem Tempo weiterrannte, würde ihm bald die Luft ausgehen.
Plötzlich katapultierte ihn der Schwung seiner Beine weiter als je zuvor. Alex war sofort klar, dass er an der Quelle der Finsternis angelangt war, und er wusste, dass er schrie vor Angst, ohne seinen eigenen Schrei zu hören. Gleich darauf landete seine Hand auf etwas Weichem und zugleich Spitzem, Metallischem. Mit unbeschreiblichem Ekel tastete Alex über einen Teppich aus Stäben, Ringen und winzigen Kugeln. Darunter war Fleisch. Weiches, lebendiges Fleisch, in dem die spitzen Gegenstände steckten.
Zunächst hielt das Wesen still, doch als Alex’ Hände weiter oben unter dem Wald von Piercings einen Kiefer und wulstige Lippen ertasteten, drehte es sich weg und wich zurück.
»Das verstehe ich nicht.« Die raue, uralte Stimme kam wie aus weiter Ferne. »Ich wusste nicht, dass… Das verstehe ich nicht.« Es klang fast wie ein Stöhnen.
In der Stille, die auf diese Worte folgte, waren rasselnde, gurgelnde Atemzüge zu hören, sehen konnte Alex nichts. Von Panik erfüllt wartete er darauf, dass das Wesen weitersprach.
»Du bist das also«, wisperte die Stimme schließlich stockend, zögerlich vor jedem neuen Wort, als spräche sie eine fremde Sprache. »Ich dachte nicht… So etwas Seltsames… Wer hätte das gedacht. Du bist… du bist einer von ihnen!«
»Was… was meinst du damit?«, stammelte Alex. Seine Stimme klang dumpf, verzerrt von der undurchdringlichen Finsternis um sie herum.
»Der nächste Wächter. Mein Nachfolger. Erkennst du mich nicht? Ich bin Arion. Aber genannt haben sie mich den Letzten.«
Wieder glaubte Alex, an seinen Fingern die spitzen Piercings und die faltige Haut darunter zu spüren. Sein Magen protestierte. »Du irrst dich«, erwiderte er. »Ich bin nicht der Letzte, alle sagen das. Sie haben mich sogar tätowiert. Das wäre nicht gegangen, wenn ich der Letzte wäre. Oder? Das haben sie zumindest behauptet.«
»Du bist anders«, gab die Stimme nachdenklich zurück. »In dir fließt ihr Blut, zumindest teilweise. Vielleicht haben sie sich deshalb geirrt. Selbst ich war mir zuerst nicht ganz sicher.«
Wieder trat Schweigen ein. Ein unerträgliches Schweigen, so schwarz wie das Schattenlabyrinth.
»Aber das kann nicht sein«, flüsterte Alex entsetzt. »Ich kann sie nicht… Ich will sie nicht vernichten.«
Das Wesen stieß ein schauriges Gelächter aus. »Du bist noch sehr jung.« Plötzlich klang es fast amüsiert. »Auch ich bin einmal jung gewesen… Es ist normal, dass es dir schwerfällt, dein Schicksal zu akzeptieren. Aber dir bleibt nichts anderes übrig… Ich wollte es zuerst auch nicht wahrhaben. Du siehst ja, wo ich gelandet bin. Mach nicht denselben Fehler wie ich. Du hast keine Chance.«
»Was… was ist denn passiert? Wieso bist du hier?«
»Sie haben mich hier eingesperrt. Nachdem sie mich besiegt haben. Mit Aranox… Ohne Aranox hätten sie das nie geschafft. Wenn man gegen dieses verfluchte Schwert kämpft, zeigt es einem sein Spiegelbild, man sieht sich, so wie man wirklich ist. Das konnte ich nicht ertragen – ich glaube, niemand kann das.«
»Aber das ist mindestens fünfhundert Jahre her…«
»Wirklich? So viel Zeit ist vergangen? Zeit bedeutet hier unten nichts, es ist, als gäbe es sie gar nicht. Man lebt in einer ewigen Gegenwart.«
»Aber warum bist du denn nicht gestorben? Warum haben sie dich nicht umgebracht?«
»Oh, Drakul hat es versucht. Es ist ihm nur nicht gelungen… Der Letzte ist nur bis zu dem Moment sterblich, in dem
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