Vision - das Zeichen der Liebenden
sich wieder zu Alex um. »Ich will eine vollkommene Welt. Und da haben sie keinen Platz.«
»Du und ich vielleicht auch nicht.«
»Deshalb musst du dich opfern.«
»Du hast mich nicht verstanden. Vielleicht hat niemand Platz in dieser vollkommenen Welt, von der du träumst. Der Mensch ist nicht vollkommen, Fehler sind Teil seiner Natur.«
Anstelle einer Antwort stieß Arion ein unheilvolles Knurren aus. »Das meinte ich doch.« Er war ganz offensichtlich wütend, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. »Du versuchst, mich mit Worten zu verwirren, mit ihren verfluchten Worten. Aber damit wirst du nichts erreichen, ich stehe über den Worten.«
»Die Worte gehören nicht den Medu.« Alex versuchte, zwischen all dem Metall erneut die Augen des Ungeheuers auszumachen. »Sie gehören allen. Allen Menschen. Wenn du den Worten misstraust, misstraust du der Menschheit.«
»Und wenn ich die Macht der Worte akzeptiere, wenn ich ihnen einen Platz in dieser Welt einräume, dann akzeptiere ich damit zugleich die Grenzen, die sie uns aufzwingen.«
Beide schwiegen eine Weile. Um sie herum flimmerten weiter Bilder über die Wände, während Hunderte von Stimmen gleichzeitig plapperten, sangen oder schrien.
»Ich glaube, langsam verstehe ich dich«, sagte Alex schließlich. Eine neue Welle von Mitleid erfasste ihn und er machte noch einen weiteren Schritt auf Arion zu.
Der letzte Wächter wich zurück, ohne Alex aus den Augen zu lassen. »Umso besser. Früher oder später wirst du auf jeden Fall verstehen. Du hast alle Zeit der Welt… Begreifst du es denn nicht? Genau wie ich wirst du dieses Labyrinth nie wieder verlassen. Du hast nur zwei Möglichkeiten: Entweder du wartest ab – dann wirst du hier verdursten und verhungern – oder du verzichtest auf deine menschliche Existenz, indem du dich auf den leeren Thron setzt. Es ist ganz einfach: Entweder du stirbst oder du wirst die neue Inkarnation des Letzten. Was ist, hörst du mir überhaupt noch zu?«
Alex antwortete nicht. Er hatte an der Wand hinter dem verschlissenen Thron etwas entdeckt. Während Arion sprach, schien sich dort ein schmaler Riss aufgetan zu haben, durch den warmes Licht in den Raum schlüpfte und ein schimmerndes Dreieck auf den Boden malte. Dieses Licht war vorher noch nicht da gewesen. Oder hatte er es nur nicht wahrnehmen können? Fast kam es ihm so vor, als hätten erst die Worte des alten Wächters seine Sinne so sehr geschärft, dass er diese Öffnung nun sah. Er war sich sicher: Dieses Licht kam von draußen. Und es war Sonnenlicht.
Und während er die Spitze des goldenen Dreiecks fixierte, sah er mit einem Mal auch die Tür in der Wand. Sie hatte sich einen Spalt breit geöffnet und durch diesen Spalt fiel das Sonnenlicht warm und weich herein. Die Tür gehörte zur selben Kulisse wie der weiße Stuhl.
»Ich werde nicht sterben und ich werde mich auch nicht dort hinsetzen und zu einem Monster werden«, erklärte Alex, den Blick unverwandt auf die Tür gerichtet. »Ich werde ganz einfach hinausgehen. Siehst du es denn nicht? Der Ausgang ist hier, in dieser Wand.«
Arion fuhr herum. Seine Augen wanderten zu der angelehnten Tür, dann musterte er Alex traurig. »Das ist eine falsche Tür. Dahinter ist nichts.«
»Glaubst du das wirklich? Komm, lass uns einfach nachsehen!«
Er hielt dem Ungeheuer die Hand hin. Einmal mehr stachen die kalten Piercings unangenehm in seine Handfläche.
Nebeneinander gingen sie auf die angelehnte Tür zu. Je näher sie kamen, desto heftiger begann Arion zu zittern.
»Moment mal, warte. Ich spüre etwas…«
»Siehst du das Sonnenlicht? Die Tür ist offen.«
»Ich sehe kein Licht, aber ich kann seine Wärme fühlen. Warte. Wenn das wirklich wahr wäre…«
Der alte Wächter blieb stehen. Alex sah, dass seine Augen voller Tränen standen. »Komm mit«, sagte er sanft. »Würdest du die Sonne nicht gern wiedersehen? Du bist schon viel zu lange hier eingesperrt, zwischen all den Worten und Symbolen, die du so hasst.«
»Ich habe so oft von der Sonne geträumt, seit ich hier bin. Aber ich glaube nicht, dass ich hinauskann. Jahrhundert um Jahrhundert habe ich den Ausgang gesucht und ihn doch nie gefunden. Der Hass ist das schrecklichste Gefängnis von allen. Es gibt keinen Weg hinaus. Jetzt bin ich zu alt, um mich noch zu ändern.«
»Los, komm!« In diesem Moment dachte Alex nicht an die Medu oder ihren Krieg mit den Wächtern. Er dachte nicht einmal an sich selbst. Seine Gedanken galten allein diesem
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