Vision - das Zeichen der Liebenden
Bald war sein ganzer Körper über und über mit Bildern bedeckt.
Da begriff er. Das war es, was der Letzte tat: Er nahm das Labyrinth an vorgefertigten Symbolen in sich auf, in dem die Menschen lebten… er entriss ihnen ihre Geschichten, indem er sie auf seine eigene Haut bannte und so die Macht der Medu brach.
Die Vision wurde unscharf, doch Alex fühlte sich auf einmal wie gelähmt. Jetzt durchschaute er Arions Plan. Der Stuhl aus der Vision war der leere Thron, von dem sein Vater ihm im Turm der Winde erzählt hatte. Wenn er sich darauf setzte, würde er gar keine Wahl mehr haben. Er würde unweigerlich zum Letzten werden.
Er riss die Augen auf. Wie viel Zeit war vergangen? Noch immer liefen sie geradeaus, während weiterhin die alten Filmkulissen an ihnen vorbeizogen: eine Schiffskajüte, ein Schützengraben, das finstere Verlies einer Burg. Und dann ein kleiner Salon mit Spitzengardinen und alten, gemütlichen Möbeln, darunter auch ein weiß lackierter Stuhl mit ovaler Lehne und gedrechselten Beinen. Der Sitz war mit grünem Brokat bezogen.
»Wenn du willst, kannst du dich ein bisschen ausruhen.« Arion blieb stehen. »Der Ausgang ist ganz in der Nähe und ich weiß nicht, was dich draußen erwartet. Außerdem willst du mir bestimmt noch viele Fragen stellen, bevor du gehst. Hier können wir uns hinsetzen.« Er deutete beiläufig auf den alten weißen Stuhl, während er sich ächzend auf eine Holzkiste fallen ließ. »Ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst.«
Alex musterte den Stuhl fasziniert. Vorgetäuschte Pracht, vorgetäuschtes Alter. Ein sonderbarer Thron, den Arion sich da ausgesucht hatte. Wahrscheinlich hätte sich auch jede andere Sitzgelegenheit in dieser ungeheuerlichen Halle geeignet, in der der letzte Wächter sich verschanzt hatte.
Über die hintere Wand der Kulisse wanderten lange Schatten – Projektionen von orientalischen Marionetten, wahrscheinlich aus Thailand oder Burma. Alex verstand die Sprache nicht, aber die zugehörigen Stimmen waren weiblich und sanft. »Ich setze mich da ganz sicher nicht hin, Arion.« Alex drehte sich zu dem verunstalteten Wesen um. »Tu du’s doch, wenn du unbedingt willst.«
Zum ersten Mal machte Alex zwischen dem vielen Metall in Arions Gesicht die schwarzen, unendlich müden Augen des letzten Wächters aus. Ungläubigkeit und Argwohn spiegelten sich darin. »Wie hast du es herausgefunden?« Die Frage war kaum mehr als ein Flüstern.
»Ich hatte eine Vision. Ich weiß genau, was passiert, wenn ich mich auf diesen Stuhl setze: Ich werde die Symbole anziehen, alle Bilder und Worte in diesem Raum und von draußen. Sie werden in mich eindringen, sich in meine Haut einbrennen und dadurch werden die Medu ihre Macht verlieren. Genau das tut der Letzte, oder? Er setzt sich auf den leeren Thron. Er opfert sich selbst.«
Einer grotesken Eisenskulptur gleich saß Arion reglos da und starrte ihn an.
»Aber du hast es nicht getan«, fuhr Alex fort. Er machte ein paar Schritte auf den Wächter zu. Neugierig sah er ihm ins Gesicht. »Warum nicht?«
Arions Schultern sackten herab, als sei er auf einen Schlag gealtert. »Damals waren die Medu sehr geschwächt«, sagte er mit fast unhörbarer Stimme. Es war mehr ein Selbstgespräch als eine Antwort auf Alex’ Frage. »Den Klan der Kurilen gab es nach dem verlorenen Krieg gegen die restlichen Klane nicht mehr. Mit dem Verschwinden der Kurilen aber hatten die Medu die Fähigkeit verloren, sich vor uns zu schützen, indem sie die Zukunft lasen. Noch nie waren sie so angreifbar gewesen. Ich war mir so sicher, das würde mir einen gewissen Vorteil verschaffen… Also beschloss ich, gegen sie zu kämpfen, statt mich zu opfern. Es war ein Fehler. Ein einziger fataler Fehler, den ich nie wiedergutmachen kann.«
»Ich will mich auch nicht opfern«, erklärte Alex entschlossen. »Ich habe nicht vor, die Medu zu vernichten. Weil ich mir gar nicht so sicher bin, dass ihr im Recht seid.«
»Du bist zu früh hergekommen.« Arions Stimme klang anklagend, zornig. »Du bist noch nicht so weit. Aber irgendwann wirst du merken, wie gefährlich sie sind, welchen Schaden sie der Menschheit zugefügt haben und wie wichtig es ist, sie zu stoppen. Dann ist es vielleicht schon zu spät.«
Plötzlich überkam Alex Mitleid mit dem alten Wächter. »Warum hasst du sie so sehr?«, fragte er sanft.
Arion stieß eine Reihe von schnalzenden Lauten aus, ein irres, verzerrtes Lachen. »Warum ich sie hasse?«, wiederholte er. Seine
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