Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
zögerte. Dann wandte er sich von dem Fenster ab und schlenderte auf sie zu.
Sie ging ihm entgegen, und er zog sie in den Schutz des Carports. »Kann ich denn nicht einmal mehr einen Spaziergang machen, ohne dass du mir nachschnüffelst? «, giftete er sie an.
Kaitlyn zählte bis drei, ehe sie antwortete. Sie versuchte ihr Haar zu ordnen, das der Wind in eine wilde, zerzauste Lockenmähne verwandelt hatte. Außerdem musste sie erst wieder zu Atem kommen.
Schließlich sah sie ihm ins Gesicht. Die Straßenlampe vor dem Haus beschien die eine Hälfte, die andere lag im Schatten. Kaitlyn reichte vollkommen aus, was sie sah. Seine Haut wirkte straff, fest über die Knochen gespannt. Unter den Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Und auf seinem Gesicht lag ein merkwürdiger Ausdruck. Wie er sie ansah, die Augen verengt, die Lippen ein wenig zurückgezogen, der Atem zu schnell.
Gabriel war kurz vor dem Zusammenbruch. Und, nein, er war noch nicht im Ferienhaus gewesen.
»Hast du das etwa vor?«, sagte sie. »Willst du einen Spaziergang machen?«
»Genau.« Seine Lippen zogen sich noch ein bisschen weiter zurück. Er sah sie herausfordernd an. »Ich muss hin und wieder Abstand zu den anderen bekommen. Ich kann Kessler nur bis zu einem bestimmten Punkt ertragen.«
»Du wolltest also nur ein bisschen Privatsphäre?« Sie ging einen Schritt auf ihn zu. »Und da hast du dir gedacht, es wäre genau die richtige Zeit für einen kleinen Spaziergang. «
Völlig unvermittelt schenkte er ihr sein strahlendstes Lächeln. »Genau.«
Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu. Sein Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Seine Züge verhärteten sich. »Mitten in der Nacht. In eisiger Kälte.«
Er sah jetzt gefährlich aus. Dunkel und gefährlich wie ein Wolf auf der Jagd. »Genau, Kait. Und jetzt sei ein gutes Mädchen, und geh zurück zum Auto.«
Kaitlyn trat noch näher heran. Sie war ihm jetzt so nahe, dass sie seine Wärme und die Anspannung in seinem Körper spürte. Sie sah seine Augen immer dunkler werden, hörte, dass sein Atem unregelmäßig ging.
»Ich bin noch nie ein gutes Mädchen gewesen. Da kannst du zu Hause jeden fragen. Die behaupten, ich hätte eine problematische Einstellung. Du warst also rein zufällig bei dem Ferienhaus?«
Er nahm den plötzlichen Themenwechsel, ohne mit der Wimper zu zucken, doch er sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Natürlich, was sonst?«
»Ich dachte« – Kaitlyn legte den Kopf in den Nacken und sah ihm in die Augen –, »dass du vielleicht etwas brauchst.«
»Ich brauche nichts von niemandem! «
Kaitlyn war etwas Erstaunliches gelungen: Sie hatte Gabriel dazu gebracht, ihr Platz zu machen. Er war einen Schritt zurückgewichen und stand nun mit dem Rücken zur Betonwand.
Kait ließ ihm nicht die Zeit, die Fassung wiederzuerlangen. Sie wusste, wie riskant es war, was sie tat. Gabriel befand sich am äußersten Limit, und er war durchaus in der Lage, ihr Gewalt anzutun. Doch sie verscheuchte jeden Gedanken an die Gefahr. Sie dachte nur an den Schmerz in seinen Augen.
Kait ging noch einen Schritt auf ihn zu und war ihm jetzt so nahe, dass sie sich berührten. Vorsichtig, bedächtig, legte sie ihm die Hände auf die Brust. Sie spürte, dass sein Herz raste wie das eines fliehenden Hirsches.
Dann blickte sie zu ihm auf, das Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt.
»Ich glaube, du lügst«, flüsterte sie.
KAPITEL NEUN
In Gabriels Augen zerbrach etwas. Es sah aus, als zerspränge Achat in viele kleine Splitter.
Er packte Kaitlyn mit der einen Hand an der Schulter, mit der anderen am Haar und zog ihren Kopf zur Seite.
Schwarzes Entsetzen schlug über Kait zusammen, doch sie bewegte sich nicht. Mit den Fingern klammerte sie sich an die Ärmel seines geborgten Hemdes.
Dann fühlte sie seine Lippen im Nacken.
Zunächst fühlte es sich an wie ein Stich, als sei ein einzelner scharfer Zahn ihr in die Wirbelsäule gedrungen, knapp unterhalb des Halses.
Vampire, dachte Kait benommen. Sie wusste, dass Gabriel nur einen Transferpunkt öffnete, doch es fühlte sich an, als habe er ihr die Haut durchstoßen. Sie begriff nun, wie die Geschichten über Vampire zustande gekommen waren.
Im nächsten Moment war der stechende Schmerz vorüber. An seine Stelle trat ein Ziehen. Einen Moment lang spürte sie ihren eigenen Widerstand und dann gab sie nach.
Energie floss in einem schmalen Strom aus der offenen Wunde. Kaitlyn verspürte Wärme – und
Weitere Kostenlose Bücher