Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
nicht von ihr erwarten, dass sie jetzt den ganzen Weg wieder bis nach Hause fährt. Dafür ist es zu spät. Vor dem Essen hat sie mir gesagt, dass sie müde ist. Ich habe sie schon eingeladen, über Nacht zu bleiben.«
Kaitlyn stöhnte leise, doch dann fiel ihr auf, dass Rob, Anna und besonders Lewis sie vorwurfsvoll ansahen. Sie spürte deren Entrüstung. Die drei verstanden nicht, was sie gegen Lydia hatte.
Ach, was soll’s, dachte Kait. Sie zuckte die Schultern und senkte den Kopf.
Gabriel und Lydia kamen wenige Minuten später wieder herein. Lydia sah nicht besonders enttäuscht aus darüber, dass sie die Konferenz in der Küche verpasst hatte. Sie schaute Gabriel immer wieder verführerisch durch ihre langen Wimpern hindurch an, eine Strategie, die Gabriel zu amüsieren und Lewis zu ärgern schien. Kait und Anna überließen es Rob, Gabriel auf den neusten Stand zu bringen, und halfen stattdessen Mrs. Whiteraven, die Betten zu beziehen.
Also ist die Suche vorbei?, fragte Gabriel. Kaitlyn hörte ihn glasklar, obwohl er in der Küche saß und sie im Gästezimmer gerade Lydias Kopfkissen bezog.
Wir reden morgen darüber, antwortete sie gereizt. Sie war todmüde.
Und sie machte sich Sorgen um Gabriel. Wieder einmal. Immer noch. Sie spürte, dass er Schmerzen
hatte, fühlte die Anspannung, die unter der scheinbar ruhigen Oberfläche lauerte. Aber es war unwahrscheinlich, dass er sie um Hilfe bitten würde.
Mit dieser Vermutung lag sie richtig. Er wollte auch nicht darüber reden, als es ihr gelang, einen Augenblick mit ihm allein zu sein, während die anderen zu Bett gingen.
»Was hast du vor?« Sie hatte die schreckliche Vorstellung, dass er sich in das Schlafzimmer von Annas Eltern schleichen könnte, so verzweifelt, dass er nicht mehr wusste, was er tat.
»Nichts«, erwiderte er knapp und fügte dann mit eisigem Zorn hinzu: »Ich bin Gast hier.«
Er hatte ihre Befürchtung also mitbekommen. Und er hatte seinen Stolz. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass er die ganze Nacht durchhalten würde.
Er ließ sie einfach stehen.
Es dämmerte gerade, als Kaitlyn aufwachte, sechs Uhr, wie ihr die grünen Leuchtziffern auf Annas Radiowecker verrieten. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Die anderen schliefen noch, auch Gabriel. An seiner Unruhe konnte sie jedoch ablesen, dass er nichts unternommen hatte.
Es gab so vieles, worüber sie sich Sorgen machen konnte, doch merkwürdigerweise beschäftigte sie vor allem Lydia.
Vergiss Lydia, sagte sie sich. Doch ihre Gedanken
kreisten ständig um dieselben Fragen. Wer war Lydia, und warum war sie so wild darauf, mit ihnen zusammen zu sein? Was stimmte nicht mit ihr? Warum wurde Kaitlyn das Gefühl nicht los, dass man ihr nicht trauen konnte?
Sie musste das doch irgendwie klären können, dachte Kaitlyn. Es musste doch so etwas wie einen Test geben …
Sie setzte sich auf. Dann schlüpfte sie, so leise es ging, aus dem Bett. Sie nahm ihre Reisetasche, ging damit ins Bad und verschloss die Tür.
Dort knipste sie das Licht an und kramte ihre Malsachen aus der Tasche. Die verschlossene Kunststoffbox hatte im Bach nichts abbekommen, die Ölkreiden und der Radiergummi waren trocken. Der Skizzenblock allerdings war feucht geworden.
Was soll’s, dachte sie. Den Ölkreiden machte die Feuchtigkeit nichts aus. Kaitlyn nahm die schwarze Kreide, hielt die Hand über das Blatt und schloss die Augen.
So etwas hatte sie noch nie getan: ein Bild heraufzubeschwören, ohne dass sie das Bedürfnis hatte zu malen. Sie nutzte einige der Techniken, die Joyce ihr beigebracht hatte, entspannte sich und schloss die Welt um sich herum aus.
Öffne deinen Geist. Denk an Lydia. Konzentriere dich darauf, Lydia zu malen. Lass das Bild kommen.
Schwarze Linien schossen ihr durch den Kopf. Kaitlyn sah das Bild und ließ ihrer Hand freien Lauf. Nun kam Traubenblau dazu, und ein blauer Schimmer in den Haaren – Lydias Haaren. Es folgten blasse Fleischtöne für ihr Gesicht und helles Celadongrün für die Augen.
Doch Kaitlyn spürte, dass sie noch einmal den schwarzen Stift brauchte: Breite schwarze Striche liefen über Lydias Porträt und formten eine Silhouette, die Lydia einschloss, sie umgab.
Kaitlyn öffnete die Augen und starrte ihr Gemälde an. Die breitschultrige Silhouette mit den senkrechten schwarzen Linien – das war wieder der Mann im Mantel.
Mit einem wütenden Satz sprang sie auf.
Ich bringe sie um. Oh, mein Gott, ich bringe sie um …
Sie riss die Badezimmertür auf
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