Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
wenn es wichtige Papiere waren. Doch es war etwas anderes, als Geld oder Schmuck mitzunehmen.
Gabriel stieß pfeifend die Luft aus.
Aus einem braunen Briefumschlag zog er Papiere heraus, legte sie oben auf den Aktenschrank und leuchtete mit der Stiftlampe darauf.
Kaitlyn kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, worum es sich handelte. Die Blätter sahen aus wie Zertifikate oder so etwas, schweres blaugraues Papier mit einem Dekorrahmen.
Dann las sie die Worte, die Gabriel mit dem Finger antippte. »Zu zahlen an den Inhaber.«
Oh Gott.
Kaitlyn stand da wie gelähmt. Die Schrift verschwamm vor ihren Augen. Sie konnte den Blick nicht von der Zahl auf der Schuldverschreibung abwenden. Das konnte nicht wahr sein. Und doch gab es keinen Zweifel.
US $ 1 000 000.
Eine Million Dollar.
Und da waren jede Menge. Ein ganzer Stapel.
Gabriel blätterte sie durch und zählte leise. »Zwanzig«, sagte er schließlich. »Das stimmt.« Er nahm die Schuldverschreibungen in die Hand und streichelte sie. Sein Gesicht trug denselben Ausdruck, den Kaitlyn an ihm beobachtet hatte, als sie gemeinsam Mr Zetes’ Haus besichtigt hatten. Wie Dagobert Duck, wenn er seine Golddukaten zählt.
Kaitlyn vergaß ihr Schweigegelübde. »Wir stehlen zwanzig Millionen Dollar?«, flüsterte sie.
»Das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagte Gabriel und streichelte noch einmal mit den Fingern über die Papiere. Dann richtete er sich auf und steckte die anderen Mappen rasch wieder zurück in die Hängeregistratur. »Wir wollen ja nicht, dass einem Nachtwächter heute noch auffällt, dass etwas fehlt. Und erst recht nicht, solange wir noch im Gebäude sind.«
Als die Schublade wieder zu war, schob er den Umschlag in die Innentasche seines Jacketts. »Gehen wir.«
In Gang war niemand zu sehen, und sie kamen problemlos durch die erste Tür. Kaitlyn wusste nicht, ob sie
angewidert oder erleichtert sein sollte. Sie begingen ein Kapitalverbrechen. Gabriel lief mit zwanzig Millionen gestohlenen Dollar in der Tasche durch die Gegend. Und das Schlimmste war, dass sie damit durchkamen.
Andererseits war es natürlich gut, dass sie damit durchkamen. Schließlich wollte Kaitlyn nicht ins Gefängnis.
In diesem Moment traten direkt vor ihnen zwei Männer aus einem Büro auf den Flur.
Kaitlyn schlug das Herz bis zum Hals. Ihre Füße waren plötzlich fest im Boden verwurzelt, Hände und Arme taub. Um die Brust war ihr so eng, dass ihre Lunge keinen Platz zum Atmen hatte.
Trotzdem dachte sie zunächst, dass die Männer nicht in ihre Richtung sehen würden. Doch sie täuschte sich. Dann hoffte sie inständig, dass sie gleich wieder wegschauen würden. Immerhin war Kaits Angst bereits groß genug, sie war schon gestraft genug. Mit Kapitalverbrechen wollte sie nichts zu tun haben.
Die Männer wendeten den Blick nicht ab, sondern kamen direkt auf sie zu. Dann sah Kaitlyn, dass sie den Mund bewegten. Mehr konnten ihre Sinne zunächst nicht verarbeiten, als dass sie den Mund bewegten. Sie hörte nicht, was sie sagten – das alles spielte sich ab wie unter Wasser oder im Traum.
Doch einen Augenblick später sprang ihr Gehirn wieder an und lieferte ihr sämtliche Sinneseindrücke klar
und deutlich. »Was tun Sie hier? Sie haben hier keinen Zugang.«
Aus dem Tonfall sprach Misstrauen oder doch zumindest die Befürchtung, dass etwas nicht stimmte. Und Kaitlyn wusste, wenn nicht schnell jemand etwas entgegnete, würde sich das Misstrauen der Männer verfestigen, und sie wären gefangen wie die Fliegen im Harz.
Denk nach, Mädchen. Denk nach.
Doch es kam überhaupt nichts. Ihr sonst so flinkes Gehirn war völlig nutzlos. Alles, woran sie denken konnte, war der Umschlag in Gabriels grauem Jackett, der ihr mittlerweile so auffällig vorkam wie ein Elefant, der von einer Boa constrictor verschlungen worden war.
In diesem Moment schritt Frost ein.
Mit federnden Schritten, die so gar nicht zu ihrem strengen braunen Kostüm passen wollten, ging sie auf die beiden zu. Sie lächelte die beiden Männer an und gab ihnen die Hand.
Guter Gott, nicht jetzt, dachte Kaitlyn. Wenn sie die beiden anmacht, hilft uns das auch nicht weiter. Doch der Gedanke war sofort wieder weg, als Frost die beiden ansprach – nicht etwa aufdringlich, sondern freundlich und gut gelaunt.
»Sie müssen … Jim und Chris sein«, sagte sie und schüttelte ihnen die Hand, als befinde sie sich auf einer Teeparty. »Mein Onkel hat mir von Ihnen erzählt. Sie sind in der
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