Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
Hund hörte auf sie. Seine Lippen entspannten und schlossen sich wieder. Das Fell im Nacken glättete sich. Der Rücken entspannte und senkte sich, bis der Bauch fast den Boden berührte. Baron klemmte den Schwanz zwischen die Beine und wandte den Blick ab. Seine ganze Haltung war unterwürfig.
Anschließend gebot Anna auch Prince, der aus der Diele langsam und drohend auf sie zukam, mit der Hand Einhalt. Sie umfasste seine Schnauze mit der Hand und demonstrierte ihm damit unzweifelhaft ihre Dominanz.
Rob hob die Augenbrauen. »Wie lange kannst du das aufrechterhalten?«
»Ich weiß nicht«, sagte Anna, ohne sich umzudrehen. »Ich versuche, die beiden hier festzuhalten, aber ihr beeilt euch wohl besser.« Sie neigte den Kopf, sah die beiden Hunde weiter an und begann leise zu singen. Kaitlyn verstand die Worte nicht, doch der Rhythmus war unglaublich beruhigend. Die mächtigen Rottweiler schienen wie hypnotisiert. Sie krochen noch etwas näher zu ihr heran und stupsten sie sanft mit der Nase.
»Dann mal los«, sagte Rob.
Die Holzverkleidung in der Diele war dunkel, wohl Walnuss oder Mahagoni. Kaitlyn und Rob untersuchten
sie genau, während Lewis ihnen zweifelnd zusah.
»Hier«, sagte Kait und deutete auf das mittlere Paneel. »Das sieht aus wie ein Riss. Es könnte aber auch der obere Abschluss einer Tür sein.«
»Also müssten wir hier irgendwo einen Öffner finden«, sagte Rob.
Er fuhr mit den Fingern über das glatte Holz und in die Fugen zwischen den Paneelen. »Das dürfte schwierig werden. Wahrscheinlich muss man an mehr als einer Stelle drücken und eine bestimmte Abfolge einhalten oder so etwas.«
»Okay, Lewis«, sagte Kait. »Dann bist du jetzt dran.«
Lewis stellte sich zwischen die beiden und murmelte: »Aber ich weiß gar nicht, wie das geht. Von Geheimtüren habe ich keine Ahnung.«
»Aber du weißt ja bei keinem Gerät, mit dem du arbeitest, genau, wie es funktioniert, oder?«, fragte Kaitlyn. »Wie machst du es denn sonst?«
»Ich gebe dem Ding sozusagen einen mentalen Schubs. Das läuft nicht bewusst ab. Ich stupse einfach ein bisschen und schaue, was passiert. Und wenn es funktioniert, dann mache ich so weiter«
»Das ist wie beim Biofeedback«, sagte Rob. »Man weiß nicht, wie man die Herzfrequenz senkt, und trotzdem geht es.«
»Also, dann schau doch mal, ob du mit dem Paneel
hier weiterkommst«, bat Kait Lewis. »Wir müssen die Tür finden – wenn es denn eine gibt.«
Lewis machte sich an die Arbeit. Er strich mit gestreckten Fingern leicht über die Täfelung, verharrte immer wieder kurz und drückte aufs Holz. Sein Körper war gespannt wie eine Feder. Kaitlyn konnte ihm ansehen, dass sein Geist hart arbeitete.
»Na los, wo bist du?«, murmelte er. »Geh schon auf, geh auf.«
Etwas klickte.
»Geschafft!«, sagte Lewis und klang dabei eher überrascht als triumphierend.
Kaitlyn starrte mit weichen Knien die Wand an.
Da war tatsächlich eine Tür. Oder jedenfalls ein Durchgang. Das mittlere Paneel hatte sich nach links verschoben. In der vermeintlich geschlossenen Wand klaffte ein Loch.
Der Eingang sah genauso aus wie in Kaitlyns Zeichnung, nur, dass die Gestalt im Mantel fehlte. Dahinter führten Stufen nach unten, die nur schwach von einer indirekten rötlichen Beleuchtung am Ende der Treppe erhellt wurden.
»Junge, Junge!«, flüsterte Lewis.
»Warum ist es nur so dunkel?«, murmelte Kait. »Warum gibt es hier kein richtiges Licht?«
Rob nickte zu den Glastüren hinüber, die in Joyce’ Zimmer führten, genau gegenüber von der Geheimtür.
»Vielleicht wegen ihr. So kann man auch bei Nacht hineingehen, ohne gleich gesehen zu werden.«
Kaitlyn legte die Stirn in Falten und zuckte dann mit den Achseln. Darüber konnten sie sich später noch den Kopf zerbrechen.
»Lewis, du bleibst hier oben. Wenn Gabriel ruft, dass er in der Einfahrt die Scheinwerferlichter sieht, gib uns Bescheid. Dann kommen wir schnell hoch, und du kannst die Tür wieder schließen.«
»Falls ich sie wieder schließen kann«, sagte Lewis. »Stell dir vor, du lernst, mit den Ohren zu wackeln – du weißt erst, wie es geht, wenn du es tust.« Trotzdem baute er sich neben dem Eingang auf wie ein zu allem entschlossener Wachtposten.
»Ich gehe zuerst«, sagte Rob und machte sich vorsichtig auf den Weg nach unten. Kaitlyn folgte ihm. Sie wünschte, sie hätte eine Taschenlampe dabei. Ihr gefiel dieser Marsch ins rötliche Dämmerlicht überhaupt nicht, denn obwohl die Lichter die Stufen der Treppe
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