Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
– «
»Vergesst es. Alles«, sagte Gabriel scharf. Als sich an den anderen Tischen mehrere Schüler nach ihnen umsahen, fügte er hinzu: Vergesst es! Wir müssen uns jetzt erst mal um etwas ganz anderes kümmern. Kapiert?
Kaitlyn nickte langsam. »Du hast recht. Wenn dieses … Netz, das uns verbindet, rissig wird …«
»Auch wenn nicht, müssen wir es trotzdem loswerden«, sagte Gabriel brutal. »Informationen über Telepathie – und damit meine ich verlässliche und genaue Informationen – gibt es nur im Institut.«
»Das stimmt. Joyce hat im Labor alle möglichen Bücher und Zeitschriften«, stimmte Lewis ihm zu. »Aber sie wird vielleicht misstrauisch, wenn wir uns plötzlich dafür interessieren. »
»Nicht, wenn wir jetzt gleich nachsehen«, sagte Gabriel. »Wahrscheinlich schläft sie.«
»Das kann schon sein«, sagte Kaitlyn vorsichtig. »Oder auch nicht – und Mr. Zetes ist vielleicht auch da …«
»Und Schweine können vielleicht fliegen. Wenn wir nicht nachsehen, werden wir es nie erfahren.« Gabriel stand auf, als sei schon alles entschieden.
Junge, Junge! Der wird ja plötzlich richtig unternehmungslustig! Jetzt, wo es für ihn um etwas geht.
»Lewis«, sagte Kaitlyn sanft tadelnd. Aber Lewis hatte natürlich recht.
Joyce schlief, und die Glastüren zu ihrem Zimmer standen sperrangelweit auf. Kaitlyn sah Rob an. Normalerweise wäre es nur ein bedeutungsvoller Blick gewesen, doch jetzt konnte sie ihm auch mental Worte senden.
Schade, sagte sie. Ich hatte gehofft, dass wir noch einmal in den verborgenen Raum gehen könnten, aber das ist jetzt zu riskant. Sie würde uns hören.
Er nickte. Es wäre sowieso zu riskant gewesen. Die Türen sind aus Glas. Wenn sie aufwacht, schaut sie direkt auf die offene Vertäfelung.
Lewis machte ein ungewohnt nachdenkliches Gesicht. Ich dachte, wir wollten laut reden.
Nicht, wenn wir genau vor Joyce’ Tür stehen, sagte Kaitlyn und verdrehte die Augen. Leise gingen sie weiter.
Gabriel trafen sie im vorderen Labor an, wo er neben einem Regal kniete und die Zeitschriften durchblätterte. Kaitlyn gesellte sich zu ihm.
»Im hinteren Labor sind noch mehr Regale«, sagte
Anna und ging mit Lewis durch die Tür. Rob setzte sich neben Kaitlyn. Er brauchte gar nichts zu sagen, sie spürte, dass er sie beschützen wollte. Solange Gabriel in der Nähe war, behielt er sie lieber im Auge.
Das ist wirklich nicht nötig, dachte Kaitlyn und fragte sich sogleich, ob einer der anderen sie gehört hatte. Sie fühlte sich wie auf dem Präsentierteller. Nie konnte sie sich sicher sein, ob ihre Gedanken auch wirklich privat blieben. Verärgert nahm sie sich ein Buch.
Wir müssen das wieder abstellen, dachte sie.
Rechts und links von ihr signalisierten Rob und Gabriel ihre Zustimmung.
Sie suchten, wie es ihnen vorkam, stundenlang. Kaitlyn blätterte im Journal der amerikanischen Gesellschaft für Übernatürliche Forschung, in Ausgaben von Parapsychologie und in anderen Zeitschriften. Manche waren aus anderen Sprachen übersetzt und trugen im Original unaussprechliche Titel wie Sdelovaci Technika.
Es gab Artikel über Telepathie, Projektion und Suggestion, aber nichts schien auch nur den Hauch von einem Nutzen für ihre derzeitige Lage zu haben.
Als Kaitlyn schon jede Minute erwartete, dass Joyce aufwachte, hörte sie Anna aufgeregt aus dem anderen Zimmer rufen.
Leute, ich habe etwas gefunden!
Die drei liefen in das hintere Labor und drängten sich um Anna.
»Über die Stabilität telepathischer Verbindungen als Funktion des Gleichgewichts in selbsterhaltenden geometrischen Konstrukten«, las sie und hielt eine Zeitschrift mit rotem Umschlag hoch. »Hier geht es um Gruppen, die in einer telepathischen Verbindung stehen, also Gruppen, wie wir es sind.«
»Was, um Himmels willen, ist ein selbsterhaltendes geometrisches Konstrukt?«, fragte Kaitlyn.
Anna lächelte sie an. »Das ist ein Netz. Du hast es selber gesagt, Kaitlyn: Wir sind wie fünf Punkte, die gemeinsam eine geometrische Form bilden. Und diese Form ist stabil. Genau darum geht es in diesem Artikel. Wenn zwei Menschen geistig miteinander verbunden sind, dann ist das instabil, bei drei oder vier auch noch. Aber bei fünf ist es dann stabil, und das Ganze bleibt im Gleichgewicht. Deshalb sind wir immer noch miteinander verbunden.«
Rob sah Gabriel an. »Also ist es deine Schuld. Du hättest uns fünf nie miteinander verbinden dürfen.«
Gabriel ignorierte ihn und wollte sich die Zeitschrift schnappen.
Weitere Kostenlose Bücher