Visite bei Vollmond
Das Zahnfleisch sollte
eigentlich auch nicht so frei liegen. Sein Mund würde schnell austrocknen, so
viel war sicher. Und dann würde er seine Zähne verlieren. Ich fragte mich, ob
Anna klar war, was sie sich da aufgehalst hatte. Mir war es das jedenfalls
nicht. Und Gideon selbst ⦠verdammt.
Zwischen Gideons Happen
recherchierte ich die Ursachen für Werwolfinitis â wenn man eine ernsthafte Onlinerecherche über
Werwölfe überhaupt als solche bezeichnen konnte. Da ich Winters Blut mit mir
herumgeschleppt hatte, schien es mir aber angebracht zu sein.
Das Internet war wie immer
furchtbar hilfreich und nutzlos zugleich. Zwanzig Standardantworten und
fünfzigtausend abwegigere Theorien, alles mit Kommentaren von Zwölfjährigen
versehen, die schworen, sie würden in einen Nationalpark gehen und einen Wolf
abschlachten, um die Sache mit dem Pelz auszuprobieren â und zwar noch dieses
Wochenende! Für diejenigen, die das im Revier von Harscher Schnee
ausprobierten, würde die Sache bestimmt super laufen.
Aber wenigstens waren die
Standardantworten ziemlich normal. »Geburtsfehler«: bei Vollmond geboren,
siebter Sohn eines siebten Sohnes, Eihaube auf dem Kopf des Neugeborenen. Dann
gab es noch Unfalltheorien: Man wurde direkt von einem Werwolf gebissen oder
hatte einfach nur Pech und legte sich dieses alte Pelzding über, das man im
Wald gefunden hatte. AuÃerdem Hexenflüche oder das Wasser aus dem Pfotenabdruck
eines Werwolfs, oral eingenommen. Letzteres klang einfach nur schwachsinnig.
Dass ich für Gideon die
Superschwester spielte und auÃerdem das Internet durchforstete, lenkte mich
aber nur zum Teil davon ab, dass in meinem Kleiderschrank ein neugeborener
Vampir schlummerte. Ich wollte ehrlich gesagt nicht in demselben Zimmer
schlafen, so dicht in ihrer Nähe. Klar, tagsüber war ich sicher â aber in
welchem Zustand würde sie aufwachen? Und wie wütend würde sie sein? Ich wusste
doch gar nichts über sie.
War sie freiwillig ein Vampir
geworden? War sie auch eine Tageslichtagentin gewesen? Oder einfach nur jemand,
von dem Anna gedacht hatte, man sollte ihn schützen? Schutz war eine Sache â
Rührei in den Mund eines Mannes ohne Lippen zu löffeln eine andere.
Irgendwann würde Gideon auch
etwas trinken müssen. Vielleicht konnte ich ihm ja Eisstückchen geben. Oder er
stellte sich in die Dusche und hielt das Gesicht in den Strahl, wie ein
trinkender Vogel.
Ich atmete ein paarmal tief
durch. »So weit alles okay, Gideon?«
Er nickte. Hätte er sprechen
können, hätte er mir vielleicht gesagt, wie ironisch diese Frage war. »Okay«
war eben ein sehr dehnbarer Begriff.
»Ich besorge dir bald noch
etwas anderes zu essen. Aber jetzt muss ich erst mal schlafen. Es war ein
langer Tag.« Das galt wohl für uns beide. Ich suchte auf meinem Laptop einen
Internetradiosender und stellte GroÃvater an Gideons Seite. »Leiste ihm etwas
Gesellschaft, okay?« Ich bezweifelte zwar, dass Gideon Deutsch sprach, aber
immerhin hatte er Gesellschaft. »AuÃerdem habe ich eine Katze, sei gefälligst
lieb zu ihr. Ich schlafe im Nachbarzimmer. Wenn du auf die Toilette musst, nur
zu. Wir überlegen uns ein System für alles, versprochen.«
Ich brachte ihm noch ein paar
Decken und lieà ihn dann auf dem Sofa zurück. Eigentlich wollte ich nicht ins
Schlafzimmer, aber solange er die Couch beanspruchte, blieb mir nichts anderes
übrig.
Sobald ich ins Bett gekrochen
war und mich ausgestreckt hatte, sprang Minnie zu mir hoch und musterte mich
eindringlich. »Ich weië, sagte ich zu ihr. »Das alles ist verdammt übel.«
Typisch Siamkatze verkündete sie ihre Zustimmung mit einem lauten Miauen. Dann
kroch sie zu mir unter die Decke, und obwohl wir beide wussten, dass es nicht
besonders klug war, schliefen wir ein.
Kapitel 23
Â
Als
ich aufwachte, war die Schranktür nach wie vor geschlossen. Einen Moment lang
blieb ich still liegen und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Zum
Glück befand sich meine Unterwäsche nicht im Schrank, sondern in der Kommode,
und notfalls konnte ich einfach Klamotten anziehen, die zwar auf dem Boden
lagen, aber nicht ganz so dreckig waren. Ich wollte den Kleiderschrank
definitiv nicht aufmachen. Was, wenn ich nach einem Oberteil suchte und sich
genau in diesem Moment die Lichtschutzplane vom Fenster löste, der Vampir im
Tageslicht
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