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Vita Nuova

Vita Nuova

Titel: Vita Nuova Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brrazo
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habe schreckliche Angst, verstehen Sie?«
    »Ja. Ja, das verstehe ich. Die Welt da draußen kann einem schon ganz schön Angst einjagen.«
    »Früher war alles anders … Wenn sie kommen, kann ich mich nicht einmal wehren. Das ist es, verstehen Sie, ich kann mich nicht einmal wehren.«
    »Natürlich nicht. Aber dafür sind wir ja da.«
    »Ich bin dreiundneunzig, wissen Sie.«
    Er lebte allein in einer Wohnung ganz in der Nähe und hatte Angst vor einer Welt, die er nicht mehr verstand und zu der er keinen Bezug mehr hatte. Obwohl er sich an kaum mehr etwas erinnerte, war der Maresciallo ihm im Gedächtnis haftengeblieben. Sie trafen die gewohnte Vereinbarung: Der Maresciallo versprach, sofort einen Streifenwagen vorbeizuschicken.
    »Meine Männer werden gleich dort sein, also gehen Sie jetzt besser wieder nach Hause. Wenn Sie dort sind, können sie außer Hausflur und Straße auch gleich noch Ihre Wohnung überprüfen.«
    »Ich beeile mich, aber ich kann nicht fliegen, ich bin dreiundneunzig.«
    »Gehen Sie ganz normal. Wenn meine Männer Sie nicht antreffen, werden sie draußen alles überprüfen und kommen dann bei der nächsten Runde noch mal vorbei. Wissen Sie noch? Das hat beim letzten Mal, als Sie sich Sorgen gemacht haben, auch geklappt.«
    Da der alte Mann ganz in der Nähe der Pitti-Wache wohnte, fuhren die Dienstwagen oft an seinem Fenster vorbei und vermittelten ihm das Gefühl, unter dem besonderen Schutz der Carabinieri zu stehen. Hin und wieder vergaß er das und kam auf die Wache, um sich vom Maresciallo beruhigen zu lassen. Wo sonst sollte er auch hin mit seinen Ängsten?
    Der Morgen ging vorbei, Besucher kamen und gingen, und langweiliger Papierkram gaukelte ihm ein Gefühl der Normalität vor, das von Zeit zu Zeit von einer Welle der Angst überflutet wurde, die ihm fast die Luft zum Atmen nahm. Der Maresciallo öffnete die entsprechende Vorlage im Computer und wollte einen ausführlichen Bericht verfassen. Aber an wen sollte er den weiterleiten? In der Theorie sollte er sich bei einem Interessenskonflikt an die Staatsanwaltschaft in Genua wenden, der Florenz in solchen Fällen unterstand. Dies war dem Maresciallo wohl bekannt, allein sein Vertrauen in das System war zutiefst erschüttert, und mit theoretischem Wissen allein kam er hier bestimmt nicht weiter. Das waren alles Richter und Staatsanwälte, er war nur ein kleiner Offizier, der wie schon so viele andere vor ihm höchstwahrscheinlich seinen Hut würde nehmen müssen. Er würde einfach von der Bildfläche verschwinden, und wenn dieser Bericht in die falschen Hände kam, erging es den beiden Kindern ebenso.
    ›Ihr Gefühl hat Sie noch nie getäuscht‹, sagte der Capitano immer. ›Sie brauchen mich nicht.‹ Und wohin hatte ihn sein Gefühl nun gebracht?
    Guarnaccia dachte an seinen Vorgesetzten, Capitano Maestrangelo, intelligent, ruhig, kompetent … vielleicht …
    Sofort verwarf er den Gedanken wieder. Die Crux war die Sache mit den Kindern. Wenn er dem Capitano von den beiden erzählte, zog er ihn unweigerlich mit in den Schlamassel hinein, er wäre gezwungen einzuschreiten und würde sich und seine Karriere ruinieren. Wem war damit geholfen?
    Nein. Das würde er dem Capitano nicht antun. Es gab mehr als genug Männer, denen es wichtiger war, den Leuten auf der Liste schönzutun, als möglichen Kindesmissbrauch zu unterbinden, egal ob es sich dabei um ein, zwei oder zehn Kinder handelte. Maestrangelo war ein guter Mann, ein ehrlicher Mann, eine Spezies, die man nicht mehr allzu oft traf … und wenn die Armee Männer wie ihn wegen einer solchen Liste verlor, wo sollte das alles hinführen? Gut, seine eigene Karriere war gelaufen, aber was bedeutete das schon, aus höherer Warte betrachtet? Ihm selbst war die eigene Karriere nur wegen seiner Frau und der Kinder wichtig. Er musste nicht sieben Tage in der Woche in diesem doofen, kleinen Büro zubringen. Was für ein Leben war das schon? Er konnte etwas Besseres finden. Hatte Totò nicht mal vor Jahren wütend verlangt, er solle sich wie die Väter seiner Freunde endlich einen vernünftigen Job suchen?
    Zurzeit blies der Wind aus der falschen Richtung. Vielleicht war es ja ganz gut, dass alles so gekommen war. Manche Leute fanden, er schlafe im Gehen … Nun ja, die Sache hier hatte ihn wachgerüttelt. Wachgerüttelt und ihm gezeigt, wie machtlos er im Grunde doch war, wie bedeutungslos. Da brauchte doch nur eines dieser hohen Tiere mit dem Finger zu schnippen, und schon würde man ihn

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