Vita Nuova
… oder sich zusammengereimt hatte. Aber die Druckerschwärze verschwamm vor seinen Augen, und er las ein und denselben Absatz wieder und wieder, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen.
›Erpressung‹ … das Wort sprang ihm förmlich ins Gesicht. Vermutungen, nichts als Vermutungen und Spekulationen. Gut möglich, dass nichts Handfestes dahintersteckte, aber wenn Nesti Erpressung vermutete, dann hatte er auch einen bestimmten Opferkreis im Sinn. Er musste überprüfen, ob Nesti seinen Namen irgendwo erwähnt und damit möglicherweise den Staatsanwalt oder Paoletti in Alarm versetzt hatte. Also, zuerst der Artikel, der sich mit Erpressung befasste. Aber er konnte sich noch immer nicht richtig konzentrieren. Kurz entschlossen schob er die Zeitung zur Seite und griff zum Telefon. Nesti anrufen und einfach fragen …? Den Staatsanwalt anrufen und herausfinden, wie die Dinge standen, es hinter sich bringen …? Welche Absicht er auch immer hegte, die Nummer, die er gedankenverloren wählte, war die Nummer seiner Schwester. Er musste Teresas Stimme hören. Nur sie konnte ihn jetzt beruhigen. Er durfte ihr nichts erzählen, und dennoch würde sie natürlich sofort merken, dass etwas nicht stimmte, aber er würde einfach sagen, er sei übermüdet, dass er ohne sie nicht richtig schlafen könne. Sie sollte nur mit ihm reden, damit er sein Herz nicht mehr so laut klopfen hörte. Er ließ es klingeln und klingeln. Er würde sich dafür entschuldigen, dass er noch immer nichts unternommen hatte wegen der Wohnung, und würde ihr versprechen, sich gleich darum zu kümmern, und das würde er dann auch tun, sich einreden, dass er die Sache ja vielleicht doch noch zu einem guten Ende bringen könnte. Aber würde er das schaffen? Bei der Bank anrufen, einen Termin mit dem Geschäftsführer ausmachen, mit dem Capitano reden, den Immobilienmakler wegen der Wohnungsbesichtigung anrufen … Er brachte es ja noch nicht einmal fertig, den ersten Schritt zu tun. Guarnaccia ließ es klingeln und klingeln. Mit den Menschen, die hier zur Wache kamen und seine Hilfe suchten, kam er spielend zurecht, das war kein Problem für ihn. Sie kamen her und erzählten, was sie auf dem Herzen hatten. Meist reichte es schon, wenn er einfach nur zuhörte. Und außerdem waren da ja noch Lorenzini und die anderen Carabinieri, die den Betrieb am Laufen hielten, er musste hin und wieder nur ein wenig Präsenz zeigen. Selbst wenn er gar nichts täte, würde alles weiterlaufen wie bisher. Die Welt würde nicht aufhören, sich zu drehen, aber zu Hause …
Sie war nicht da. Bestimmt war sie mit den Jungen am Strand. Er legte erst auf, als die Verbindung abbrach.
Der Maresciallo griff wieder zur Zeitung, versuchte festzustellen, ob Nesti seinen Namen irgendwo genannt hatte. Er nahm die Schultern zurück, damit der schmerzhafte Druck in seiner Brust ein wenig nachließ, und sah auf die Uhr. Ob der Staatsanwalt die Zeitung schon gelesen hatte? Nein, sonst hätte er bestimmt angerufen. Wahrscheinlich bekam er die erste Morgenausgabe sämtlicher Tageszeitungen auf den Schreibtisch, die zweite Ausgabe hatte er mit Sicherheit noch nicht gesehen. Das verschaffte ihm eine kurze Galgenfrist. Er nahm den Hörer in die Hand und rief in der Redaktion an. Nesti war natürlich nicht da.
»Probieren Sie es doch heute Nachmittag noch mal, zwischen drei und halb vier.«
»Danke.«
Stille.
Dann hörte er draußen im Warteraum eine bekannte Stimme und öffnete rasch die Tür, um den jungen, unerfahrenen Carabiniere davor zu bewahren, Signor Palestri die Hand zu drücken.
»Ich möchte den Maresciallo sprechen.«
»Können Sie nicht mit mir vorliebnehmen? Der Maresciallo ist im Moment leider sehr beschäftigt.«
»Nein, ich will den Maresciallo. Jemand muss etwas unternehmen, Sie müssen kommen.«
»Schon gut, ich kümmere mich darum.« Der Maresciallo legte seinen Arm um den schmächtigen alten Mann und führte ihn zu einem Stuhl im Warteraum.
»Setzen Sie sich erst einmal einen Augenblick. Die Treppe nach hier oben ist ganz schön steil und hat Sie ordentlich außer Puste gebracht.«
»Nun ja, ich bin dreiundneunzig, was erwarten Sie da?«
»Sie sind noch ganz gut beieinander für Ihr Alter, schließlich schaffen Sie es noch immer, uns hier oben einen Besuch abzustatten.«
»Um mit Ihnen zu sprechen, Maresciallo, ich bin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen, das ist kein Freundschaftsbesuch. Es muss endlich was geschehen. Sie müssen jemanden vorbeischicken. Ich
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