Vita Nuova
als Fahrer zu begleiten. Sie kamen nur bis zur Treppe. Sein junger Begleiter nahm Haltung an und legte grüßend die Hand an die Mütze. Der Maresciallo drehte sich wortlos um, schloss die Tür wieder auf und ließ seinem Besucher den Vortritt.
»Capitano …«
Capitano Maestrangelo war die Treppe heraufgekommen und trat mit finsterer Miene grußlos ein.
Sie gingen in das Büro des Maresciallo und setzten sich. Die üblichen Höflichkeitsfloskeln ersparten sie sich, keiner der beiden war darin sonderlich geübt. Jetzt, da er ihn richtig sehen konnte, erkannte der Maresciallo, dass das Gesicht des Capitano nicht vor Zorn finster war, was durchaus manchmal vorkam, sondern dass er wohl Schmerzen haben musste. Tiefe, dunkle Schatten umrandeten seine Augen. Statt ihm die erwarteten Vorhaltungen zu machen, bat er nur um ein Glas Wasser.
Der Maresciallo stand auf, um es persönlich zu holen.
Der Capitano nahm ein paar Tabletten und trank einen kleinen Schluck Wasser hinterher.
»Kopfschmerzen«, murmelte er. »So hochpolitische Fälle machen einem nur Kopfschmerzen, im direkten wie auch übertragenen Sinn …«
»Die Zigeunergeschichte … natürlich. Verstehe. Tut mir leid. Ich meine, tut mir leid, dass ich ausgerechnet jetzt …«
»Nein.« Der Capitano holte das Entlassungsgesuch aus der Jackentasche und legte es auf den Schreibtisch. »Nein, das kann ich auf keinen Fall akzeptieren. Was immer schiefgelaufen ist, werden wir richtigstellen, aber Sie werden nicht aus dem Dienst ausscheiden.«
Da er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, zog der Maresciallo es vor, einfach zu schweigen. Der Capitano erhob nie seine Stimme, aber heute sprach er so leise, als verursache ihm das Geräusch seiner Stimme Schmerzen.
»Ich weiß, dass Ihre Schwester krank ist. Wenn das Ihr Problem ist, fahren Sie, fahren Sie noch heute nach Syrakus. Erledigen Sie, was zu erledigen ist, und wenn Sie eine Zeitlang zwischen hier und dort pendeln müssen, dann tun Sie das. Sehen Sie zu, dass Sie genug Tagesbefehle unterschreiben, damit ich gedeckt bin. Und wenn die Flugkosten das Problem sind, dann werde ich auch dafür eine Lösung finden.«
Der Maresciallo sagte noch immer nichts. Er staunte nicht schlecht über das, was er gehört hatte, und war zutiefst gerührt, aber das änderte nichts an der Ausgangssituation.
»Das ist also offenbar nicht das Problem.«
»Nein. Nein, ich …«
»Es tut mir leid, ich hatte keine Zeit, mich mit Ihrem Fall zu befassen. Aber heute Morgen habe ich ein paar Zeitungsausschnitte gesehen, der Vater des Opfers scheint in einen Skandal verwickelt zu sein.«
»Ja.«
»Dann hat Ihr Problem wohl etwas mit dem Fall zu tun?«
Der Maresciallo legte seine großen Hände auf die Knie und starrte angelegentlich auf sie hinab.
»Ich bin Ihr vorgesetzter Offizier.«
»Ja, Capitano.«
»Aber ich kann Ihnen nicht befehlen, mir Bericht zu erstatten, wenn Sie aus ermittlungstechnischen Gründen Stillschweigen bewahren müssen.«
»Nein, Capitano.«
»Guarnaccia …«
Der Maresciallo starrte weiter auf seine Hände, horchte auf den Regen.
»Kann ich Ihnen denn überhaupt nicht helfen?«
»Doch, Capitano. Ich habe einen Bericht für die Staatsanwaltschaft in Genua. Können Sie mir wohl sagen, an wen genau ich den adressieren muss? An den Oberstaatsanwalt? Ich habe so etwas noch nie gemacht, und wir dürfen keine Zeit verlieren. Es ist wirklich dringend.«
Er blickte zum Capitano hoch, wollte ihm die Dringlichkeit klarmachen, ohne weitere Erklärungen abgeben zu müssen. Die beiden Männer schauten sich lange in die Augen. ›Das ist der einzige Mann auf der Welt, dem ich wirklich vertraue‹, stellte Guarnaccia fest und wäre beinahe schwach geworden. Die Versuchung, seine Last bei diesem Mann abzuladen, war fast zu groß für ihn, aber nur fast. Er würde Maestrangelo nicht gefährden. Also schaute er wieder auf seine Hände hinunter und wartete.
Der Capitano holte einen Stift heraus und schrieb etwas auf das Blatt Papier, das der Maresciallo ihm herüberreichte.
»In Anbetracht der Dringlichkeit sollten Sie den Bericht per E-Mail schicken. Ich muss kurz mal telefonieren, bitte entschuldigen Sie.« Er rief sein Büro an, erkundigte sich nach der E-Mail-Adresse und schrieb sie unter den Namen. Der Maresciallo nahm das Blatt entgegen.
»Danke.« Er hatte es geschafft.
Der Capitano trank noch einen Schluck Wasser. Doch statt sich zum Gehen zu erheben, legte er die Stirn in Falten. Vor lauter Schmerzen
Weitere Kostenlose Bücher