Vita Nuova
schien er kaum noch aus den Augen schauen zu können.
Das Entlassungsgesuch des Maresciallo lag noch immer auf dem Schreibtisch.
»Es tut mir leid, Guarnaccia. Wirklich. Wir beide haben von Anfang an gewusst, dass dieser Staatsanwalt … Ich hatte gedacht, dass Sie mit ihm zurechtkommen würden; seit ich diesen Brief erhalten habe, zermartere ich mir das Hirn, aber ich hatte wirklich gedacht, dass Sie mit ihm klarkommen. Sie haben schon früher mit ihm zusammengearbeitet …«
»Ja.«
»Bei Ihrem ersten gemeinsamen Fall war ich nicht da, oder?«
»Sie waren in Urlaub.«
»Ja. Und wie es aussieht, habe ich Sie auch dieses Mal im Stich gelassen.«
»Nein, nein …«
»Ich war schon immer der Ansicht, dass Sie viel besser mit Menschen umgehen können als ich, aber das soll keine Entschuldigung sein. Ich habe mich nicht um Sie gekümmert. Ich habe Sie im Stich gelassen. Und dafür gibt es keine Entschuldigung. Ich bin zuallererst meinen Leuten gegenüber verpflichtet, nicht dem Bürgermeister. Dass Sie eine solche Entscheidung treffen, ohne dass ich die geringste Ahnung habe, in welchen Schwierigkeiten Sie stecken … Also ehrlich, Guarnaccia, die Vorstellung, Sie zu verlieren, trifft mich zutiefst, aber noch mehr trifft mich der Gedanke, Ihr Vertrauen verloren zu haben. Aber das ist wahrscheinlich nackte Eitelkeit.«
»Nein. Nein, so ist es doch gar nicht. Das alles hat doch nichts mit Ihnen zu tun … ich muss es einfach machen. Es ist besser, wenn ich die Verantwortung dafür alleine übernehme, das müssen Sie mir glauben.«
»Ich bin Ihr vorgesetzter Offizier.«
»Ja, Capitano.«
»Ich bin dafür da, Verantwortung zu übernehmen. Folglich muss ich doch wohl davon ausgehen, dass Sie diesen Bericht nur unter Verschluss halten, weil ich bei einer Offenlegung Ihre weiteren Ermittlungen gefährden könnte, richtig?«
Warum konnte er die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen? Er sollte zurück in sein Büro gehen, sein Leben weiterleben, seine Arbeit machen. Er konnte einfach zu gut mit Worten umgehen.
»Würde ich Ihre Ermittlungen gefährden?«
»Nein.« Aber es würde Sie gefährden, Ihre ganze Existenz. Hören Sie auf nachzubohren … Aber war das nicht genau das, was Piazza ihm gesagt hatte, er solle aufhören, weiterzubohren? Und hatte er nicht trotzdem weitergemacht, weil er nicht anders konnte? ›Sie und Ihr Dickkopf‹, darüber hatte sich schon der Staatsanwalt beschwert.
»Und Sie wollen trotzdem die Verantwortung ganz allein tragen? Das müssen Sie nicht. So funktioniert die Armee nicht. Vielleicht funktioniert das so in Ihrem Kopf, aber haben Sie schon einmal daran gedacht, was passiert, wenn die Sache nicht so läuft, wie Sie es sich vorgestellt haben? Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie mit der Geschichte allein fertig werden? Es ist offensichtlich eine sehr ernste Angelegenheit, sonst säßen wir heute nicht hier. Ich will keinesfalls Ihre Fähigkeiten in Frage stellen, Guarnaccia, aber das wissen Sie ja wohl. Ich möchte Sie nur darum bitten, über die Konsequenzen nachzudenken. Sie wissen, wie die aussehen werden, ich nicht … Was ist, wenn dieser Bericht nicht absolut klar ist, wenn er die Dringlichkeit und den Ernst der Lage nicht eindeutig rüberbringt? An beidem zweifle ich nicht, denn schließlich kenne ich Sie gut genug. Denken Sie bitte daran, dass Sie diesen Bericht jemanden schicken, der Sie nicht kennt, dass ich Sie nicht unterstützen kann.«
Hatte der Staatsanwalt nicht auch so etwas in der Richtung gesagt? ›Sie maßen sich da etwas an, was Ihnen einfach nicht zusteht.‹ Damals hatte er nicht geglaubt, dass dem so war. Er hatte sein Bestes gegeben, aber vielleicht war sein Bestes ja nicht gut genug. Wenn sein Bestes ein schlecht geschriebener Bericht war – und er war nun wirklich weder gut im Berichteschreiben noch in mündlicher Berichterstattung –, der zur Konsequenz hatte, dass es zu Verzögerungen kam oder dass man ihn nicht ernst nahm? Ein dicker, glatzköpfiger Mann, der aus dem Schlafzimmer trat, ein kleines Mädchen, das weinte … Und alle Reichen und Mächtigen dieser Stadt würden sich gegen ihn wenden.
Der Capitano hatte das Entlassungsgesuch vom Schreibtisch aufgenommen und hielt es Guarnaccia hin. Guarnaccia nahm es schweigend an und reichte ihm den Bericht. Es regnete heftiger.
»Der Herr gebe ihr die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihr …«
Die Kirche war zwar ziemlich klein, dennoch wunderte es den Maresciallo, dass sie so
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