Vita Nuova
gut besucht war. Sein Plan, sich in der hintersten Bank zu platzieren und so jedermann beim Hinausgehen beobachten zu können, war gescheitert, denn auch diese Bänke waren voll besetzt. Deshalb blieb er hinten in der Kirche stehen. Schon bald stellte er fest, dass der größte Teil der Gottesdienstbesucher nicht zu den Trauergästen gehörte, sondern einfach nur ganz normale Kirchgänger waren.
»Wir kennen hier weiter niemanden …«, hatte ihm Silvana bei ihrem Spaziergang im Garten anvertraut. Ein paar der schwarzgekleideten Gäste in den vorderen Reihen schienen ein wenig unsicher, wann sie aufzustehen, zu knien oder zu sitzen hatten, Angestellte aus dem Club, denen befohlen worden war, sich angemessen zu kleiden und hier zu erscheinen. Bestimmt wussten die schon gar nicht mehr, wann sie das letzte Mal eine Kirche von innen gesehen hatten.
»Ich bekenne Gott dem Allmächtigen, der seligen Jungfrau Maria, dem heiligen Erzengel Michael …«
Nun, wo er so darüber nachdachte, konnte Guarnaccia selbst nicht mehr so recht sagen, wann er das letzte Mal eine Messe besucht hatte. Wollte er da wirklich mit Steinen werfen?
»Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld …«
Er musste verrückt gewesen sein, als er geglaubt hatte, er könne mit allem allein fertig werden … jetzt tat er nichts weiter, als buchstabengetreu die Instruktionen des Capitano zu befolgen.
»Was immer der Staatsanwalt zu sagen hat, hören Sie einfach nur zu, und nicken Sie folgsam.«
Das hatte Guarnaccia getan, schweigend, mit dem gebührenden Respekt und, vor allem, ohne eine Miene zu verziehen.
»Wenn er Ihnen eine bestimmte Vorgehensweise für Ihre Ermittlungen anempfiehlt, was er wahrscheinlich von Anfang an getan hat –«
»O ja, ich sollte mich um das Privatleben der Tochter kümmern, einen ehemaligen Gärtner suchen, der früher im Gefängnis saß, solche Sachen …« Er hatte diese Anweisungen befolgt. Und da Paoletti wie erwartet noch einmal ins Krankenhaus musste, um ein paar weitere Untersuchungen machen zu lassen, würde er weiterhin gehorsam den Anordnungen des Staatsanwaltes Folge leisten und in der Nähe der Familie bleiben. Schließlich galt es zu vermeiden, dass der anderen Tochter während der Abwesenheit des Familienoberhauptes auch noch ein Unglück zustieß.
»Er wird in ein bis zwei Tagen wieder zu Hause sein.«
»Und? Werden Sie diesen Gärtner ausfindig machen können?«
»Ich werde ihn finden, und dafür genauso lange brauchen, wie es der Staatsanwalt erwartet. Um unseren Aktionen einen überzeugenderen Anstrich zu geben, habe ich beantragt, die DNA des Kindes analysieren zu lassen. Um ehrlich zu sein, ich dachte … Ich hatte gehofft, dass er versuchen würde, das zu verhindern.«
»Sie haben doch nicht geglaubt, De Vita sei …«
»Nein, das nicht … obwohl, vielleicht hätte ich … wo er und Paoletti schon so lange miteinander im Geschäft sind … Der Mord ist schließlich passiert, als er Rufbereitschaft hatte. Das wird ja wohl kaum Zufall sein, oder? Sie haben recht, ich hätte auch das in Betracht ziehen sollen. Nein, ich habe an Paoletti gedacht.«
»Inzest?«
»Nun ja, streng genommen ist das kein Vergehen, oder? Höchstens ein hübscher kleiner Skandal, es sei denn, das Mädchen war damals noch minderjährig. Paoletti legt großen Wert auf Ehrbarkeit, stellt seine Religiosität und seine großzügigen Spenden gerne öffentlich zur Schau. Ich drücke mich nicht sehr gut aus, will sagen, der Mann hat einfach alles unter Kontrolle … Er selbst hätte sie nicht umbringen können, das steht fest, und er würde sie von niemand anderem umbringen lassen wollen. Selbst wenn sie aus dem Familienverband ausbrechen wollte, in einem ehrbaren Haushalt kommt ein Mord nicht vor.«
»Das stimmt. Was Sie von ihm berichtet haben, passt so weit ins Bild. Dass der Mord ausgerechnet geschah, als De Vita Rufbereitschaft hatte, sollten wir im Hinterkopf behalten. Wenn Sie mit Ihren Vermutungen bezüglich der Vaterschaft recht hätten, würde er Ihrem Antrag auf einen Test nicht so ohne weiteres stattgeben. Aber vielleicht weiß er ja gar nicht, wer der Vater ist.«
»Vielleicht irre ich mich ja auch.«
»Vielleicht. Auf jeden Fall wird dieser Test zeigen, ob die Eltern des Kindes blutsverwandt sind; aber vergessen Sie nicht, dass das, was der Staatsanwalt vor Ihnen verbergen will, mit dem Mord vielleicht überhaupt nichts zu tun hat. Wahrscheinlich will er nur seine eigene Haut
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