Vita Nuova
wurde, murmelte er ihr leise etwas zu. Daraufhin setzte Silvana eine dunkle Sonnenbrille auf und stellte sich aufrecht hin. Ein braves, gehorsames Mädchen, tat tapfer, was der Vater sie hieß. Auch das hatte er ja bereits festgestellt. Aber selbst die Autorität eines Paoletti konnte eine Alkoholikerin wohl kaum über Nacht kurieren …
»Sie trinkt nicht!«, hatte Silvana an jenem ersten Morgen behauptet, als er vorgeschlagen hatte, der Mutter einen Drink zur Stärkung zu verabreichen. Dabei hätte der ihr geholfen. Sie hatte den Tod ihrer Tochter überhaupt nicht richtig registriert, was entweder dem Kater oder dem Restalkohol zuzuschreiben war. Vielleicht hatte sie die Abwesenheit ihres Mannes ausgenutzt, um sich die Welt einmal so richtig schönzutrinken, aber der Dienstplan der beiden Haushaltshilfen, die erst gegen Mittag kamen und ihr beim Aufstehen behilflich waren …
»Halten Sie sich nicht am Tisch fest, stützen Sie sich auf mich.« Sie waren es gewohnt, ihr in diesem Zustand zur Hand zu gehen.
»Meiner Mutter geht es nicht gut …«
All das passte ganz und gar nicht zu dieser selbstbeherrschten Erscheinung an diesem Morgen. Dennoch, er hatte sie schließlich mit eigenen Augen schon in einer ganz anderen Verfassung gesehen.
Woran versuchte er sich noch wegen dieses Fahrers, dieses Mauro, zu erinnern? Die Trauergemeinde am Grab zerstreute sich. Die Totengräber kamen mit den Schaufeln, die niedrigstehende Sonne brannte heiß herunter, und die roten Lichter auf den Marmorplatten reflektierten ihre Strahlen. In den kleinen Blumensträußen, echten wie künstlichen, glitzerten noch immer einige Regentropfen. Zu gerne hätte Guarnaccia die Gelegenheit genutzt, mit der Mutter zu sprechen, jetzt, wo sie nüchtern war und einen klaren Kopf hatte. Aber Nesti und der Ex-Maresciallo warteten auf ihn. Ihm blieb keine Wahl, als zuzusehen, wie die Wagen davonfuhren, und sich anschließend am Tor des Friedhofs mit den beiden zu treffen. Daniela war tot, begraben, er musste sich jetzt auf die konzentrieren, die noch immer in Gefahr waren. Er würde vorsichtig sein, durfte dem Mann nichts verraten, was er nicht ohnehin wusste. Die erste Frage zeigte ihm, dass er über den Mord an Daniela nicht informiert war.
»Wen haben sie denn da beerdigt?«
»Daniela, Paolettis Tochter.«
»Seine Tochter? Sie haben vorhin schon was von einem Mord gesagt, aber Sie wollen damit doch nicht sagen, dass sie …«
»Doch. Haben Sie denn nichts darüber in der Zeitung gelesen?«
»Nein, ich lese selten Zeitung. Bin nur zufällig über Paolettis Namen gestolpert und hab gedacht, dass jetzt meine Zeit gekommen ist. Ich bin nicht mehr in der Armee und kann sagen, was ich will, Sie wissen schon, was ich meine. Wahrscheinlich ist er jemandem auf den Fuß getreten, und da haben sie sich seine Tochter geschnappt, um es ihm heimzuzahlen. Dabei kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich weiß nur über Paoletti Bescheid, Paoletti und De Vita.«
»De Vita? Fulvio De Vita?«
»Der Staatsanwalt, ja.«
»Sie haben Paolettis Liste gesehen?«
»Ich kenne Paolettis Liste nicht, nein. Aber klar, dass er eine hat. Eine Liste mit Leuten, die er erpressen kann, oder?«
Der Maresciallo blickte sich vorsichtshalber um. Nesti hielt angemessenen Abstand. Der Reporter wusste, wie er an Informationen kam, aber er wusste auch, wann er diskret abwarten musste.
»Ja, genau. De Vita steht auf dieser Liste, und deswegen –«
»De Vita steht auch drauf? Paoletti, dieser Scheißkerl, ist immer einen Schritt voraus. Klar ist der auch auf der Liste, und Fotos gibt es bestimmt auch. Ich selbst habe nie welche gesehen, aber ich weiß, dass sie Fotos machen. De Vita steht also auf der Liste, Paoletti wollte was in der Hand haben, falls der Staatsanwalt den Wunsch verspüren sollte, auszusteigen.«
»Aussteigen …?«
»Sie haben es noch nicht kapiert, was? Aus welchen Gründen auch immer Paoletti den Staatsanwalt auf diese ominöse Liste gesetzt hat, Tatsache ist, dass die beiden unter einer Decke stecken, schon seit Jahren dieses Geschäft gemeinsam betreiben. Ich bin nur per Zufall darauf gestoßen, und das hat mich meinen Job gekostet.«
10
Jawohl, Herr Oberstaatsanwalt, genau. Nein, das bleibt alles, wie es ist; aber ich muss mit diesem ehemaligen Maresciallo sprechen, und falls ich es für erforderlich erachte, schicke ich ihn anschließend auch bei Ihnen vorbei. Je mehr wir in Erfahrung bringen, umso geringer ist das Risiko … morgen ist es
Weitere Kostenlose Bücher