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Vita Nuova

Vita Nuova

Titel: Vita Nuova Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brrazo
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einsehen.
    »Die haben wir bereits. Ich möchte, dass Sie in der Nähe der Familie bleiben, bis Paoletti diese Untersuchungen hinter sich gebracht hat und wieder nach Hause zurückkehren kann. Soweit ich weiß, muss sein Blutdruck vierundzwanzig Stunden lang kontrolliert und noch ein paar Blutuntersuchungen durchgeführt werden. Wir wollen doch nicht, dass in seiner Abwesenheit ein weiteres Unglück passiert. Wie würden wir dann dastehen?«
    Natürlich war das alles ausgemachter Blödsinn … aber wie er sich ausgedrückt hatte … ein weiteres Unglück … wie wir dann dastehen …
    »Hmmpf.« Guarnaccia erhob sich. Er hatte den klaren Auftrag, sich in der Nähe der Familie aufzuhalten. Aber wo steckte die? Bislang war ihm der Zutritt zu allen anderen Räumen bis auf die Küche und das Vestibül versagt geblieben. Ab sofort würde er die Nähe zur Familie suchen, so wie es ihm anbefohlen war. Als er die Treppe hochging, hatte er ein Gefühl im Bauch, das ihm aus seiner Kindheit vertraut war: eine aufgeregte Anspannung, weil er ausnahmsweise einmal das ganze Haus für sich allein hatte. Warum so ein Haus ganz anders aussieht, wenn man es als Kind ganz für sich hat, bleibt wohl ein Geheimnis. Jedes Zimmer nimmt eine Art Persönlichkeit an, verkörpert etwas Verbotenes, Geheimnisvolles, verströmt einen ureigenen Duft, und eine geöffnete Schublade provoziert prickelnde Gänsehaut und zugleich heftige Schuldgefühle. Er erinnerte sich gut daran, wie er einmal mit seiner Mutter die langweilige, staubige Dorfstraße hinunter zum Dorfladen marschiert war und sie ihn zurückgeschickt hatte, weil sie die Einkaufsliste vergessen hatte. Warum waren sie eigentlich zu Fuß gegangen? Er wusste genau, dass sie damals bereits ein Auto besaßen. Vielleicht hatte ihr Vater ja im Dorf zu tun gehabt und wollte sie auf dem Rückweg mitnehmen. Es war ein weiter Weg.
    Er hatte die Liste sofort gefunden, sie lag auf dem Küchentisch. Aber er schlenderte noch ein wenig umher. Es war Sommer, noch früh am Morgen, und seine Mutter hatte bereits einen Biskuitboden gebacken und ein paar grüne Bohnen gekocht. Beides stand zum Abkühlen auf dem Küchentisch. Später würde es zu warm zum Kochen sein, und sie würde nur rasch ein paar Nudeln und eine dünne Scheibe Fleisch zubereiten. Die Bohnen interessierten ihn nicht weiter, aber natürlich lockte ihn der Kuchen. Es gelang ihm, einen Finger tief unter den Boden zu schieben und einen relativ großen Brocken herauszupolken. Der Kuchen war noch ganz warm und schmeckte viel besser als das Stückchen Kuchen, das er später auf einem Teller serviert bekommen würde. Natürlich beichtete er es am darauffolgenden Samstag. Lässliche Sünden in einem stillen Haus.
    Oben im Erdgeschoss blieb er erst einmal stehen und lauschte. Die Tür der Bibliothek zu seiner Rechten war geschlossen. Er klopfte an, wartete einen Augenblick, öffnete die Tür und machte das Licht an. Damals, als er nur einen kurzen Blick in das Zimmer hatte erhaschen können, da hatte der hohe Raum geradezu majestätisch auf ihn gewirkt, aber jetzt, wo er mitten im Zimmer stand, hatte er das Gefühl, mitten in einer Bühnendekoration gelandet zu sein. Diese deckenhohen Regale an der Wand gegenüber der Tür waren gefüllt mit Werken von Boccaccio, Tasso, Ariosto und Dante, alle einheitlich in Leder gebunden. Sie waren noch ganz neu, ein wenig verstaubt, und wahrscheinlich hatte niemand je einen Blick hineingeworfen … Paolettis großer, mit Schnitzereien verzierter Schreibtisch hingegen, hinter dem er damals gesessen hatte, schien eifrig genutzt zu werden, jede Menge Haushaltsrechnungen, Kontoauszüge und ein großes Foto im Silberrahmen. Er nahm das Foto auf: Paoletti mit einem mageren, dunkelhaarigen Kind. Das musste Silvana sein, im Alter von sechs oder sieben Jahren. Er hatte sich zu ihr hinabgebeugt, als wolle er ihr ein Geheimnis anvertrauen. Sie blickte zu ihm auf, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen, ein Finger spielte mit einer langen Haarsträhne. Die beiden schienen gänzlich ineinander vertieft. Guarnaccia stellte das Foto zurück an seinen Platz. Die Läden der drei hohen französischen Fenster waren geschlossen. Große, kostbar aussehende Teppiche bedeckten den Boden. Als er sich zum Gehen wandte, sah er, dass die Regale neben der Tür leer waren, weil einige Kisten mit noch weiteren in Folie verpackten Büchern dort standen. Auf dem weißen Resopaltisch in der Ecke stand jede

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