Vita Nuova
ein tief ausgeschnittenes Oberteil, das war nicht zu übersehen. Was soll ich jetzt machen?«
»Warten Sie, und folgen Sie ihr, wenn sie nach Hause fährt.«
»Und wenn sie mit jemandem mitgeht? Sieht ganz so aus, als ob sie es darauf angelegt hat.«
»Wenn sie das tut, rufen Sie mich an. Aber ich glaube, dass sie zurückkommt.«
Auch wenn der Käfig offensteht …
Er ging zurück in die Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. An jenem ersten Morgen, als er dort gesessen hatte, wo er jetzt saß, hatte er sie weinen sehen und bemerkt, dass die Papiertücher, mit denen sie die Tränen trocknete, Make-up-Spuren aufwiesen. Sie war etwas über zwanzig Jahre alt, und ihre ganze Rebellion bestand darin, die Rolle des lieben, kleinen Papà -Mädchens abzuwerfen und herausgeputzt mit kurzem Rock und Make-up auf der Piazzale herumzuflirten. Sie wollte bestimmt nicht mehr als nur ein bisschen flirten, sonst wäre sie schon längst von dort verschwunden. Danuta wurde nur deshalb zum Zug gebracht, weil nach dem Mord niemand aus dem Club in der Nähe der Villa gesehen werden sollte. Der Maresciallo zweifelte nicht daran, dass Mauro Danuta am Zielbahnhof in Empfang nehmen würde. Ein kleines Rätsel gelöst, aber brachte ihn das weiter? Er wartete, horchte auf Motorgeräusche. Was das wohl für ein Gefühl war, sich um seine Tochter zu sorgen? Ein paar seiner Kollegen haben ihren Töchtern nachspioniert, sie richtiggehend verfolgt. Er fand so was keineswegs in Ordnung, aber in Anbetracht der Dinge, die sie in ihrem Berufsalltag zu sehen bekamen, konnte er ihnen nicht wirklich einen Vorwurf machen. Was Paoletti betraf, der betrachtete Frauen als sein Eigentum, über das er nach Belieben verfügen konnte: kaufen, verkaufen, für sich arbeiten lassen, alle unterstanden seinem Befehl. Logisch, dass er eine Prostituierte geheiratet hatte, das hatte er nicht nur deshalb getan, damit sie nicht gegen ihn aussagen konnte. Und die eigene Tochter? Auch sie betrachtete er als sein Eigentum, und offensichtlich war sie noch viel abhängiger von ihm als die Mädchen, die für ihn arbeiteten. Trotzdem …
Da, das Auto. Ein Vater würde jetzt in der Tür stehen: »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?« Aber es war nicht einmal elf, und sie war eine erwachsene Frau! Er hörte die Tür klappen, Schritte auf der Treppe nach oben. Eine hilflose, mitleiderregende Rebellion gegen den Familientyrannen. Daniela war da möglicherweise ein anderes Kaliber gewesen, das Mädchen, das ihm Tochter und gleichzeitig Frau gewesen war. Dessen war sich der Maresciallo ziemlich sicher. Er konnte nicht zulassen, dass sie sich von ihm befreite. Der Staatsanwalt stand zu seiner Verfügung, und er hatte ein perfektes Alibi. Den Schlaganfall allerdings hatte selbst er nicht vorhersagen können. Was immer falsch gelaufen war, da muss es seinen Anfang genommen haben.
Das Telefon klingelte.
»Sind Sie das? Ja, sie ist nach Hause gekommen. Das haben Sie gut gemacht.«
»Bleiben wir die ganze Nacht?«
»Keine Ahnung. Sind Sie müde?«
»Nein.«
Der Mann war alles andere als müde, schien absolut begeistert. Dennoch, der Wind blies aus der falschen Richtung …
Ein weiteres kleines Geheimnis, an dessen Lösung er sich nun begeben konnte, waren jene Räume, die er gedanklich als Dienstbotenquartiere abgehakt hatte. Was gab es da noch außer den Besenschränken und dieser Art Abstellkammer, in der die Putzfrauen ihre Utensilien aufbewahrten? Jemand hatte ihn an jenem Morgen von diesem Fenster aus beobachtet, da konnte ihm Silvana zehnmal erzählen, dass die Mädchen erst gegen zwölf in die Villa kamen. Er hatte keinen Durchsuchungsbefehl, aber … er konnte es nicht riskieren, in die Schlafzimmer im ersten Stock einzudringen und die Familie zu stören, damit würde er höchstens einen Anruf beim Staatsanwalt provozieren, aber hier hinein konnte er einen Blick wagen, zumindest, wenn nicht abgesperrt war.
Er stand auf und marschierte zu der geschlossenen Tür gegenüber. Wie bei den anderen Zimmern klopfte er auch hier zunächst vorsichtshalber an.
»Was wollen Sie?«
Er war zu erschrocken, um zu antworten, obwohl er die Stimme sofort erkannt hatte.
»Sie können ruhig reinkommen.«
Er öffnete die Tür. ›Tut mir leid, dass ich störe‹, kam ihm in den Sinn oder ›Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist‹, aber dann blieb er sprachlos im Türrahmen stehen, nahm das Bild auf, das sich ihm bot. Hohe, vergitterte Fenster wie in der Küche, ein
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