Vita Nuova
dem Tag, an dem sie mich geweckt haben? Geweckt zu werden ist das Schlimmste überhaupt.«
»Ja, das verstehe ich … Ich wollte Sie wirklich nicht stören. Ich habe nur das Haus überprüft. Reine Vorsichtsmaßnahme. Ihre Tochter ist inzwischen auch wieder zu Hause und zu Bett gegangen.«
»Wo ist Piero?«
»Im Bett. Frida ist bei ihm. Draußen sind zwei Wagen postiert, und drei meiner Männer halten Wache.«
»Dann kann ja nichts passieren.« Der spöttische Unterton sprach Bände. »Er wird nicht sonderlich begeistert darüber sein, dass Sie mich hier aufgespürt haben.«
»Tut mir leid. Ich habe wirklich nur das Haus überprüfen wollen. Ich hatte ja keine Ahnung, sonst …«
Er sah sich um. Er saß auf einem großen Bett mit schneeweißer Tagesdecke. Der Raum erinnerte ihn an Danielas Zimmer drüben im Turm. Alles hier drinnen war einfach, sauber und ordentlich. Die Tür am anderen Ende des Raumes führte wohl zu einem Bad, und auch das würde bestimmt Ähnlichkeit mit Danielas Bad haben. Dunkelblau und weiß. Einfach, ordentlich und sauber, auch wenn die Sauberkeit hier mit Sicherheit Frida und Danuta zu verdanken war. Mutter und Tochter sahen sich sehr ähnlich. Blond, kräftig gebaut, gesunde Gesichtsfarbe. Paoletti hatte seine Frau kurzerhand durch eine jüngere, frischere Ausgabe ersetzt. Blieb ja in der Familie und damit unter seiner Kontrolle. Und wenn sie damals noch zu jung gewesen war, heute würde ihm das niemand mehr nachweisen können. Dazu war er viel zu clever. Er achtete penibel darauf, die gesetzlichen Bestimmungen so weit einzuhalten, dass ihm niemand an den Karren fahren konnte, hielt sämtliche Fäden in der Hand. Und doch war etwas außer Kontrolle geraten … ein schrecklicher Mord in seinem ehrbaren Haus. Das hätte er niemals gewollt. Während er im Krankenhaus lag, war hier etwas außer Kontrolle geraten, und was immer es war … damals hatte es seinen Anfang genommen.
Sie würden ihn nie hinter Gitter bringen. Jemand anders würde die Schuld für Danielas Tod und auch für alles andere in die Schuhe geschoben bekommen. Auf dem Papier würde alles hübsch sauber und ordentlich aussehen, Paoletti hatte sich immer woanders aufgehalten, und der Priester der Gemeinde würde ihm ein Eins-a-Leumundszeugnis geben.
»Werden Sie meinen Mann festnehmen?« Sie blickte ihn neugierig an, konnte offensichtlich seine Gedanken lesen.
»Ich … Es ist nicht an mir, zu entscheiden, ob …«
»Natürlich nicht. Das muss Fulvio wohl tun. Fulvio war einer meiner regelmäßigen … Kunden. Er hat seltsame Vorlieben, blieb gerne passiv und schaute einfach nur zu. Er ist das Schoßhündchen meines Mannes, aber das haben Sie ja sicher schon bemerkt. Ich glaube, er hat Angst vor ihm.«
Er musste das Thema wechseln, sie bewegten sich auf dünnem Eis, er musste sie ablenken.
»Sie kommen aus dem Norden, soweit ich weiß. Lebt Ihre Familie noch dort?«
»Familie? Keine Ahnung. Familien …« Sie rümpfte angewidert die Nase. »Ich habe für eine Familie gearbeitet, bevor ich davongelaufen bin. Mein Vater hat mich mit sechzehn rausgeschmissen, weil seine neue Frau mich nicht leiden konnte. Ich habe als Kindermädchen gearbeitet, ungelernt, für einen Hungerlohn … Eine ehrbare Familie. Der Mann hat mich gebumst, und die Frau hat mich rausgeschmissen. Wie es halt so geht.«
»Wie kommt es, dass Sie ausgerechnet in Florenz gelandet sind?«
»Florenz …?«
Wusste sie es oder interessierte es sie überhaupt noch, dass die Stadt, in der sie lebte, Florenz war, wo sich ihr Leben mehr oder weniger auf diesen einen Raum beschränkte?
»Ich bin nach Mailand gegangen. Bin mit einem Jungen zusammen getürmt. Als wir kein Geld mehr hatten, hat er gesagt, dass er hier Leute kennen würde und ich später nachkommen solle. Als ich nichts mehr von ihm gehört habe, bin ich eben hergetrampt …«
»Haben Sie ihn gefunden?«
»Natürlich nicht. Ich glaube, er ist nie aus Mailand fort. Er wollte mich loswerden, das war alles. Ich habe ihn wirklich gemocht. Manchmal denke ich noch an ihn. Es war nicht seine Schuld. Wir waren so jung. An seiner Stelle hätte ich das Gleiche gemacht. – Wollen Sie wirklich nicht?«
»Nein, danke.«
»Sie sind im Dienst. Aber ich darf.« Sie füllte sich das Glas erneut. »Machen Sie sich keine Sorge. Ich werde schon nicht rührselig. Ich frage mich nur manchmal, was er jetzt wohl macht. Das ist alles. Daniele, so hieß er … hoffentlich ist es ihm besser ergangen als mir. Sehen
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