Vita Nuova
würden? Er ging im Kreis, wieder und wieder, aber es half alles nichts. Guarnaccia gab seine Bemühungen auf, marschierte die Treppe hoch durch das Vestibül und zur Haustür hinaus zu den Dienstwagen. Er konnte einen Funkspruch hören, dann war es wieder still.
»Alles in Ordnung?«
»Hier ist es ruhig wie im Grab. Da sind sie ja. Gott sei Dank, ich bin am Verhungern.«
Ein Auto fuhr auf das Grundstück. Die Ablösung.
Der Fahrer des Maresciallo stieg aus dem Wagen und ging ein wenig auf und ab.
»Nur mal kurz die Beine vertreten.« Er setzte sich wieder ins Auto, und der Maresciallo schlüpfte auf den Beifahrersitz.
»Fahren wir?«
»Nein. Ich wollte Ihnen nur ein wenig Gesellschaft leisten. Im Haus schlafen alle.«
»Was passiert jetzt?«
»Nichts.«
Das sagte er mehr zur eigenen Beruhigung als aus Überzeugung. Er hatte eine der Lampen an der Haustür angelassen. Am liebsten hätte er sie alle brennen lassen, aber die anderen schalteten sich nach einer gewissen Zeit automatisch wieder aus. Die Schlüssel hatte er in der Tasche. Beide Dienstwagen waren so geparkt, dass sie die großen Kassettentüren im Blick behalten konnten. Die Hintertür, die auf der anderen Seite des Vestibüls zum Garten hinausführte, war verschlossen und von innen mit großen, eisernen Riegeln gesichert. Die beiden Familienautos waren unter den Bäumen rechts vom Maresciallo geparkt.
Nicht um seine Bewohner einzusperren, sondern um Eindringlinge abzuwehren, hatte sie gesagt. Neugierige, Menschen wie er, die Familiengeheimnisse aufspüren wollten. Ihm war bereits der Gedanke gekommen, dass Paoletti sich vielleicht nur genug Geld verschaffen wollte, um anschließend den Club, das Hotel und alles zu verkaufen und so die wahre Quelle seines Wohlstands zu verschleiern. Vielleicht hatte er ja genau deshalb dieses Haus gekauft und in kleine Wohneinheiten zerlegt. Um sich seiner Vergangenheit zu entledigen, brauchte er Geld, viel Geld. Er war dabei, sich ein neues Leben aufzubauen, bereitete sich auf seine Rolle als Stütze der Gemeinde vor, als großzügiger Spender für Kirchensanierungen, als ehrbarer Bürger. Die ungelesenen Bücher auf der einen Regalseite in der Bibliothek … aber die anderen befanden sich noch immer in Kisten. Er war unterbrochen worden, hatte die Kontrolle verloren, der Schlaganfall …
Der Maresciallo öffnete die Autotür.
»Was ist?«
»Nichts. Ich mache nur eine kleine Runde. Sie bleiben hier.«
Er wollte an den Anfang zurückkehren, obwohl es dunkel war, wollte am Rand des Swimmingpools stehen, wie an jenem Morgen. Vielleicht half es ihm, die Zusammenhänge im neuen Licht von De Vitas Rolle richtig zu deuten. Er bog um die Ecke des Turms und ging zur anderen Seite des Swimmingpools. Unter ihm die Stadt mit ihren beleuchteten Prachtbauten, ein langgezogenes, glitzerndes Band verriet ihm, wo der Arno sich zwischen den Häusern hindurchschlängelte. Der Mond schien hell, und der Regen hatte die Luft gereinigt. Das Gras unter seinen Füßen war feucht und voller Kraft. Er trat einen Schritt nach vorn auf den gekachelten Rand, damit seine Schuhe nicht unnötig nass wurden, und studierte den Umriss des im Mondlicht aufragenden Turms. Hatte man die ›Untermieterin‹ dort eingesperrt, oder hatte sie versucht, die Familie auszusperren? Lief das am Ende nicht auf dasselbe hinaus? Die Familie, die dieses Anwesen errichtet hatte, um die Plage oder Kriegswirren außen vor zu halten, war letzten Endes hier eingesperrt gewesen, oder?
Nun ja, außerdem konnte man vielleicht die Plage aussperren, aber Krebs zum Beispiel … oder einen Schlaganfall? Immer wieder kam er auf diesen Punkt zurück. Genau da musste alles seinen Anfang genommen haben.
Was würde als Nächstes passieren? Nichts, oder …
Wie die Mutter in ihrer trunkenen Benommenheit war auch er sich sicher, dass Paoletti an allem die Schuld trug, und doch war es in seiner Abwesenheit passiert.
Plage, Krebs, Schlaganfall, Menschen, die eingesperrt und Menschen, die ausgesperrt waren …
Es hatte keinen Zweck, sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen. Wenn erst einmal die Razzien vorbei und die Festnahmen gemacht waren, würde die Mutter reden. Was auch immer sie behauptet hatte, sie war eine ausgesprochen wachsame Frau. Und sie war intelligent, so intelligent wie ihre tote Tochter.
›Er hat uns früher immer mit auf den Schießstand geschleppt, um anzugeben … und Fulvio …‹
Hatte Silvana tatsächlich, wie im Garten angedeutet, einen Mann
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