Vita Nuova
Sie sich an, was aus mir geworden ist.«
»Gehen Sie nie aus? Nicht einmal in den Garten?«
»Garten? Früher, als die Kinder klein waren. Jetzt nicht mehr, nicht in diesem Haus.«
»Aber hin und wieder verlassen Sie das Haus. Ihre Nachbarin, Signora Donati hat gesagt, dass sie sonntags morgens zusammen in die Kirche gehen.«
»Wegen ihm, nur wegen ihm … Ich kenne keine Signora Donati.«
»Das stimmt. Sie hat auch nie behauptet, dass Sie sie kennen würden. Von ihrem Garten aus blickt man direkt auf die Einfahrt hier … Ich kenne sie selbst auch nicht sehr gut, ihr Sohn hat seinen Militärdienst bei uns abgeleistet, und so sind wir ins Gespräch gekommen …« Er fing ihren spöttischen Blick auf und korrigiert sich. »Entschuldigung, tut mir leid. Ich musste sie im Zusammenhang mit dem Mord vernehmen. Hätte ja sein können, dass sie gesehen hat, wie jemand das Grundstück verließ.«
»Und? Hat sie?«
»Nein.«
»Ich nehme an, dass ich auch jetzt nicht gegen ihn aussagen kann, richtig?«
»Ja.«
»Das habe ich mir gedacht. Aber es gibt mehr als nur einen Weg, um … Ich glaube, ich bin ein wenig zu betrunken, um dieses Gespräch fortzusetzen, aber eines müssen Sie mir glauben: Alles, was in diesem Haus passiert, geht auf seine Kappe, und wenn meine Tochter tot ist, dann ist das ganz allein seine Schuld, ob er nun im Krankenhaus lag oder nicht. Ich kann vielleicht nicht gegen ihn aussagen, aber ich kann Ihnen helfen. Er hat mir meine Tochter genommen …« Sie nahm das Foto auf, das in einem Silberrahmen hinter der Whiskyflasche stand. »Wie schmal sie war, das arme Ding! Es ist kaum zu glauben, aber in jenem Jahr war ich glücklich – oder zumindest war es die glücklichste Zeit meines Lebens, für ein paar Monate.«
»Das Jahr, in dem sie ihre erste Kommunion feierte. Für sie war das wohl auch eine glückliche Zeit. Sie hatte das gleiche Foto neben ihrem Bett stehen.« Durchlöchert von einer Kugel, die sie in ihrem Nachtschränkchen wiedergefunden hatten. »Sie ist wirklich sehr dünn. Wie alt ist sie da?«
»Zehn. Ich hatte gedacht, wir könnten wenigstens so tun, als wären wir eine glückliche Familie. Aber er wollte einfach nur über noch mehr Menschen befehlen können – Sie müssen ihn festnehmen. Es ist alles seine Schuld! Ich weiß, ich bin betrunken, aber ich sage die Wahrheit. Alles, was passiert ist, ist seine Schuld.«
Am liebsten hätte er gesagt, dass er ihr ohne weiteres glaubte. Doch er schwieg.
»Ich muss ins Bett.«
Er stand auf, wollte ihr behilflich sein.
»Nein, danke, Sie müssen nicht …« Sie ließ sich seitlich schwer aufs Bett sinken.
»Ich werde morgen nach Ihnen sehen.«
»Er kommt morgen nach Haus. Kommen Sie am Nachmittag. Da ist er weg. Ich habe gehört, wie er am Telefon …«
»Dann bis morgen Nachmittag. Könnte sein, dass …« Durfte er es riskieren? Er besann sich auf seine Rolle: »Könnte sein, dass Sie oder Ihr Mann gefragt werden, ob Sie Waffen im Haus haben. Der Staatsanwalt wollte Sie in Ihrer Trauer nicht stören …«
»Fulvio? Ob wir Waffen im Haus haben? Als ob er das nicht wüsste! Wir haben eine ganze Sammlung. Deswegen kommt er jeden zweiten Tag her. Mein Mann hat uns früher immer mit auf den Schießstand geschleppt, wollte angeben, was für ein toller Schütze er ist. Und Fulvio war oft genug dabei. Wenn in diesem Haus irgendwelche Schusswaffen sind …«
Sie griff nach den Ohrstöpseln an ihrem Bett. Er hoffte sehr darauf, dass sie recht behalten würde, dass Trunkenheit, Müdigkeit, Kater und die Ohrstöpsel sie bis morgen beschützen würden, sie und die anderen Gefangenen von Paoletti. Er ließ sie allein.
Ein Gefühl sagte ihm, dass er besser nicht nach Hause gehen sollte. Er musste das Spiel, das er mit dem Staatsanwalt spielte, noch ein Weilchen aufrechterhalten. In dieser Küche jedoch würde er es keine Minute länger aushalten. Er hatte es wirklich versucht, war in dem großen Raum herumgewandert, hatte sich alles genauestens angesehen. Hier sah es aus wie in der Küche eines Restaurants, jede Menge Profigeräte. Wofür brauchten sie eine derart große elektrische Wurstschneidemaschine? Was wohl der von zahllosen Neonröhren hell erleuchtete Marmor gekostet hatte? War das hier die gleiche Geschichte wie oben mit den Büchern? Hatte Paoletti die Küche seinerzeit kurzerhand im Großhandel bestellt, weil er wusste, dass sie nicht wirklich genutzt werden würde, so wie die Bücher oben in den Regalen nie gelesen werden
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