Vita Nuova
halbnackten Mädchen. »Du! Nein, du! Komm runter da. Sag der da, dass sie das Top ausziehen soll.«
Der Mann, den der Maresciallo für Mauro hielt, saß am Rand der Bühne. Er trug wieder diese orangefarbene Baseballkappe, machte Notizen auf einem Klemmbrett und gab den Mädchen Anweisungen.
Ein anderer Mann schoss Fotos, zwei weitere waren in eine Unterhaltung vertieft, beachteten die Bühne mit keinem Blick.
»Sag dem Mädchen da, dass sie diese beschissene blonde Perücke abnehmen und beim Runtergehen die Beine weiter auseinandermachen soll. Sie hat zwar eine gute Figur, aber sie kann sich überhaupt nicht bewegen. Nein, o nein! Um Himmels willen!«
Ein paar Männer, die direkt hinter dem Vorhang standen, fingen an zu kichern, als das Mädchen mit den ungeschickten Bewegungen das paillettenbesetzte Höschen auszog.
»Als ob sie sich zum Pinkeln hinsetzen würde.«
»Ich hab gesagt, dass sie endlich diese verdammte Perücke abnehmen soll.«
Jemand berührte den Maresciallo an der Schulter, er trat zur Seite. Leise und rasch stürmten die uniformierten Männer den Saal. Niemand machte Ärger. Nur die Mädchen auf der Bühne bewegten sich, suchten etwas zum Anziehen. »Schaltet die Musik aus!«, befahl jemand laut rufend.
Der Maresciallo ging nun ebenfalls in den Saal, vorbei an den Kollegen, den verschreckten Mädchen und den Männern in Handschellen. Paoletti saß noch immer in dem Sessel, allerdings hatte er sich seitlich vorgeneigt und atmete schwer.
»Ich glaube, es geht ihm nicht gut«, sagte jemand.
»Wahrscheinlich der Schock, als er uns gesehen hat.«
Die beiden Carabinieri zogen Paoletti in den Sessel zurück, so dass der Kopf auf die Rückenlehne zu liegen kam. Aus dem offen stehenden Mund tröpfelte ein feiner Speichelfaden auf die Brust.
Der Maresciallo starrte auf Paoletti, sah den Schleier, der sich über seine Augen legte … er hatte es geschafft. Paoletti war ihnen in letzter Sekunde entwischt.
Hinter der Bühne schrie jemand. Der Maresciallo drehte sich um, sah die blonde Perücke auf den Boden fliegen. Die anderen Mädchen hatten sich eng aneinandergedrängt, zogen sich die wenigen Kleidungsstücke an, die ihnen zur Verfügung standen. Nur ein Mädchen war mitten auf der Bühne stehengeblieben, nackt. Sie schrie und schrie, völlig verzweifelt.
»Du siehst mich nicht an! Du siehst mich immer noch nicht an!«
Der Maresciallo kletterte auf die Bühne, doch sie nahm ihn überhaupt nicht wahr, als wäre er Luft. Sie schrie Paoletti an, doch dessen Augen konnten nichts mehr sehen. Es war nicht der Anblick der Carabinieri, der ihn getötet hatte.
» Papà! Papà! Sieh mich an!«
»Ziehen Sie ihr was über«, befahl der Maresciallo.
Sie wehrte sich, schrie, schluchzte, aber sie schafften es, sie von der Bühne zu bugsieren. Allerdings fanden sie nicht viel, was sie ihr zum Überziehen geben konnten. Der Maresciallo verfrachtete sie in eine Nische und machte sich auf die Suche nach Danuta. Sie hatten sie ins Foyer gebracht, wo sie sich in Jeans, T-Shirt und Gummihandschuhen recht seltsam neben den halbnackten Mädchen ausnahm. Ein oder zwei der Mädchen wimmerten leise, aber die meisten waren viel zu verschreckt, um überhaupt irgendeinen Laut von sich zu geben.
»Wissen Sie vielleicht, wo Silvana ihre Sachen hat?«
»In der Garderobe.«
»Bringen Sie ihre Sachen raus zu mir in den Saal.«
12
Jemand musste Nesti reingelassen haben. Ziellos wanderte er in dem langgestreckten Raum auf und ab, die übliche Zigarette im Mundwinkel, die Augen halb zugekniffen. Er schien hochzufrieden. Keiner der Anwesenden hatte den Club verlassen dürfen, Namen und Adressen wurden aufgenommen. Wahrscheinlich lag es an der leeren Bühne und dem kalten, weißen Licht, das sie statt der roten Scheinwerfer eingeschaltet hatten, dass der Raum auf einmal die gleiche Ausstrahlung wie ein Kino nach der Vorstellung bekam, wenn die riesenhaft großen, magischen Bilder sich auflösten und die Wirklichkeit wieder Einzug hält – selbst die kalte Nachtluft, die durch die geöffneten Türen strömte, passte ins Bild.
Der Maresciallo hatte Silvana etwas überziehen lassen und ein wenig beruhigen können. Sie saßen noch immer in der Nische. Er fand es ziemlich erschreckend, wie sie die sturzbachartigen Tränenströme von einer Sekunde auf die andere abstellen und eine völlig neue Persönlichkeit annehmen konnte. Wenn sie noch immer hier inmitten des Tohuwabohus saßen, statt sich irgendwohin zurückzuziehen, wo
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